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Meinung: Die Moral von Maastricht

Warum die Bürger sich einen blauen Brief aus Brüssel wünschen sollten

Von Christoph von Marschall

Fast schade, dass Gerhard Schröder nicht schizophren ist. Im vorliegenden Fall wäre eine solche Bewusstseinsspaltung sogar höchst gesund fürs Volk, weil ganz im deutschen Interesse. Es ist nämlich leider so, dass der SPD-Vorsitzende und Wahlkämpfer Gerhard Schröder blaue Briefe nicht ausstehen kann. Im Frühjahr hat er wochenlang gegen eine Abmahnung aus Brüssel wegen des hohen Defizits der öffentlichen Haushalte gekämpft – weil sonst der Eindruck entsteht, er könne mit Geld nicht umgehen.

Der Kanzler Schröder dagegen hat kürzlich sehr zutreffend analysiert, Reformen seien in der Bundesrepublik nur in Zeiten durchzusetzen, die die Gesellschaft als tief greifende Krise empfindet. Deutschland lebt über seine Verhältnisse und denkt sich immer neue Ausreden aus, warum das Schuldenmachen, erstens, gar nicht so schlimm sei und, zweitens, im betreffenden Augenblick geradezu nützlich fürs Gemeinwohl: um die Konjunktur anzukurbeln, Flutopfern zu helfen, die Schulen nach Pisa besser auszustatten. Das alles sei doch viel wichtiger als diese völlig willkürlichen Maastricht-Kriterien, nach denen die Neuverschuldung keinesfalls höher als drei Prozent des BIP ausfallen darf. Um diese Mentalität zu ändern und die Begehrlichkeiten der Lobbys zu bremsen, um Krisenbewusstsein zu erzeugen, käme ein blauer Brief gerade recht.

Nur leider lässt sich Gerhard Schröder nicht so fein säuberlich in den Kanzler und den Wahlkämpfer zerlegen. Und so tut seine Regierung auch jetzt wieder alles, um die wahre Lage der Kassen von Bund, Ländern und Gemeinden zu verschleiern. Nach den Bestimmungen des Euro-Stabilitätspakts hätte sie zum 1. September ihre Schätzungen des gesamtstaatlichen Defizits melden müssen. Tut sie aber erst später, weil angeblich keine aussagekräftigen Zahlen vorliegen, unter anderem wegen Unklarheit über die endgültigen Flutschäden.

Als ob es darauf ankäme, ob die Flut die öffentlichen Kassen am Ende fünf, sieben oder zehn Milliarden Euro kostet. Wenn Deutschland sich um mehr als die erlaubten drei Prozent des BIP neu verschuldet, heißt das: Das Defizit von Bund, Ländern und Gemeinden übersteigt 60 Milliarden Euro. Das hat mit der Flut ziemlich wenig zu tun. Mehr als die Hälfte dieser Summe (zusätzlich zum vorhandenen Schuldenberg) haben sie bereits zwischen Januar und Juni angehäuft, also vor der Flut: 36,3 Milliarden Euro hat das Statistische Bundesamt soeben vermeldet; was 3,5 Prozent Defizit entspricht. Warum sollte das zweite Halbjahr besser werden?

Prompt schlagen die üblichen Verdächtigen vor, man solle sich nicht sklavisch dem Stabilitätspakt unterwerfen; überhaupt seien seine Kriterien überholt. Gerade im Abschwung dürfe man das bisschen Restwachstum nicht kaputtsparen. Sie werden begeisterte Bundesgenossen in Frankreich, Italien und Portugal finden.

Doch ein Aufweichen der Währung bliebe nicht folgenlos. Als die Union im Streit um die Finanzierung der Fluthilfe behauptete, eine höhere Verschuldung sei besser als höhere Steuern, konterte Finanzminister Eichel zu Recht: Die Schulden von heute sind die höheren Steuern von morgen. Besser jetzt zahlen, als die Last der nächsten Generation aufzubürden. Genauso ist es mit dem Stabilitätspakt: Die Missachtung der Maastricht-Kriterien heute führt zu einer weicheren Währung morgen. Die nächsten Generationen werden es bezahlen müssen, weil sie weniger für ihren Euro kaufen können.

Ja, es stimmt: Die 3,0-Prozent-Grenze ist willkürlich gesetzt. Genauso, wie 2,8 oder 3,5 Prozent willkürlich wären. Wer jetzt fordert, die 3,0 Prozent neu zu verhandeln, der will in Wahrheit das Prinzip aufgeben. Der stellt die Haushaltsdisziplin zur Disposition. Der will heute Geld ausgeben, das Kinder und Enkel erst erarbeiten werden.

Die Verschuldungsobergrenze von Maastricht ist mehr als nur eine Zahl. Sie einzuhalten, garantiert nicht nur Stabilität. Es geht vielmehr um ein Ethos, das es verdient, in der europäischen Verfassung verankert zu werden: als ein Wert, an dem man nicht rührt.

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