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Meinung: Die Renationalisierung Europas beginnt

Warum der Streit um das Zentrum Deutschlands Nachbarn beunruhigt

POSITIONEN: ZENTRUM GEGEN VERTREIBUNGEN

Der Großstreit füllt das Sommerloch und die deutschen Zeitungen. Er schwappte auch nach Polen. In Tschechien nahmen VizeMinisterpräsident Mareš, Senatspräsident Pithart und die beiden nationalen Vorsitzenden der DeutschTschechischen Historikerkommission Stellung. Einerseits erinnert der Streit an die guten alten Zeiten, als es noch möglich war nachzudenken – statt aktuelle Brände zu löschen – und verschiedene Ansichten abzuwägen. Es scheint, als ginge es hier um nichts wirklich Herausragendes.

Andererseits ist dies vielleicht der Beginn einer politischen Auseinandersetzung, die nicht nur Deutschland, sondern auch Tschechien, Polen und Israel angeht. Deutschland war lange das europäischste EU-Land, Motor der Integration. Das „Zentrum gegen Vertreibungen“ kann zum Symbol für die Renationalisierung Europas werden.

Nun könnte man sagen, lasst die Deutschen doch trauern und weinen, wo und wie sie wollen. Aus der historischen Erfahrung kennt Europa jedoch diese böse Reihenfolge: weinen, Aufbau eines Geschichtsmythos (der das Volk in Rage bringt), dann Uniformen, dann Panzer. Nicht doch, die Deutschen sind ja heute unsere Verbündeten; niemand sollte sie verdächtigen, dass sie ungebeten wiederkommen. Aber die ersten zwei Schritte – das Beweinen und der Aufbau eines Geschichtsmythos – sind schon real. In fünfzig Jahren wird es in Berlin wohl zwei Institutionen geben, die Emotionen beim Gedenken an den Zweiten Weltkrieg wecken: das HolocaustMahnmal nahe am Bundestag/Reichstag und ein „Zentrum gegen Vertreibungen“.

Schmerz ist für viele in der jungen Generation heute nur etwas, was vielleicht Sylvester Stallone oder Arnold Schwarzenegger fühlen, wenn sie vom Schlag eines unsympathischen Gegners getroffen werden. Da können wir uns die künftigen Klassenfahrten vorstellen: erster Halt an der „Judenplatte“, wie der Volksmund das Holocaust-Mahnmal getauft hat. Besichtigung der Steine und unverständlichen Namen, zwanzig Minuten. Beschmiert nichts mit Kreide und spuckt keine Kaugummis aus! Dann in den Bus zur Vertreibung, wo Videos und Fotos gezeigt werden.

Wenn in Deutschland eine Institution den Besuchern eine Meinung vorgibt, wird sich ein Teil der Besucher tatsächlich diese Meinung bilden. Deshalb ist es nicht nur eine Sache unserer deutschen Nachbarn und Verbündeten, falls die Vertreibung ohne die geschichtlichen Zusammenhänge dargestellt würde. Es muss gestritten werden über Form und Beeinflussung des kollektiven Gedächtnisses (zum Teil mit Steuergeldern, vielleicht später auch mit europäischen Mitteln). Es interessiert und beunruhigt uns, wenn der Russe im Bild des Zweiten Weltkriegs zum Vergewaltiger deutscher Frauen wird. Die Millionen russischer Gefangener, die in deutschen Lagern verhungerten, werden langsam vergessen. Das tiefe Misstrauen gegenüber der westlichen Demokratie in Ländern, die wie Weißrussland im Zweiten Weltkrieg am meisten von der Okkupation betroffen waren, findet keine Beachtung.

Unter Verweis auf die ethnischen Konflikte in Jugoslawien wird in Deutschland offen die Vertreibung der Deutschen wieder thematisiert. Die Flüchtlinge und Vertriebenen aus den 40er und den 90er Jahren sahen im Fernsehen doch ähnlich aus, deshalb ist Solidarität angebracht. Im Zweiten Weltkrieg standen Flucht und Vertreibung erst am Ende der Kette von Ereignissen. Die vorherigen heißen: verbrecherische Ideologie, Überfälle auf Nachbarstaaten, Holocaust, Behandlung der besetzten Länder nach den Rassengesetzen, Sklaven- und Zwangsarbeit als Stütze des verbrecherischen Regimes.

Als Tscheche im Jahr 2003 kann ich vollends mein Bedauern darüber zum Ausdruck bringen, dass „unsere“ Deutschen nicht geblieben sind, wo sie Jahrhunderte lang lebten. In den kollektiven Gedächtnissen sollte neben der heutigen Sicht aber auch das Jahr 1945 erhalten bleiben, als viele glaubten, dass die Vertreibung ein erster notwendiger Schritt zu einem dauerhafteren Frieden sei.

Und nun zur Praxis. Erika Steinbach ist eine ehrgeizige und fähige, aber für Mittel- und Osteuropäer inakzeptable Politikerin; sie ist zu einem politischen Problem Deutschlands geworden. Mit den Plänen für das Zentrum ist sie so weit gegangen, dass sie einen bedeutenden Vorsprung hat. Wenn ihr Hauptgegner Markus Meckel in Polen und Tschechien für seinen Aufruf gegen Form und Standort des geplanten Zentrums wirbt, ist das ein Zeichen der Verzweiflung oder der Not. Ein Teil der Deutschen, die sich selbst als Europäer definieren, ruft um Hilfe.

In Polen wurden sie von Intellektuellen unterstützt, von Ex-Politikern mit gewichtigen Namen, von Historikern; eine Medienkampagne ähnlich wie in Deutschland ist entbrannt. In Tschechien haben sich amtierende Spitzenpolitiker geäußert. Sie vertreten damit auch die langsamen tschechischen Medien. Sollte das „Zentrum gegen Vertreibungen“ in Berlin nach Steinbachs Vorstellungen gebaut werden, wird man das Geschrei der Polen vergessen. Den Tschechen wird man nicht vergessen, dass sie prominent und offiziell protestiert haben.

Das Holocaust-Mahnmal und das Zentrum gegen Vertreibungen in Berlin werden zwei Nachbarn sein, die Emotionen schüren.

Jan Šícha ist Historiker und Slawist. Er leitet das Tschechische Kulturzentrum München.

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