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Meinung: Die Türkei soll draußen bleiben 90 Millionen Muslime, wachsender Islamismus: Darauf kann die EU verzichten / Von Hans-Ulrich Wehler

Europa wird größer. Was kann die bald 450 Millionen Europäer verbinden?

Europa wird größer. Was kann die bald 450 Millionen Europäer verbinden? Wo liegen die Gemeinsamkeiten, wo die Meinungsverschiedenheiten? In einer gemeinsamen Serie von Tagesspiegel und DeutschlandRadio Berlin suchen prominente Europäer Identität und Perspektiven des künftigen Europa. Zu hören sind die Beiträge sonntags um 12 Uhr 10 im DeutschlandRadio Berlin (UKW 89,6).

Die Kopenhagener Konferenz von 2002 hat den trügerischen Eindruck erzeugt, dass in der Frage des türkischen Beitritts zur EU Zeit gewonnen worden sei. Tatsächlich ist aber erstmals ein Termin für Verhandlungen – 2005 – zugesagt worden, wenn denn bis Ende 2004 die Aufnahmekriterien – Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Marktwirtschaft – überzeugend erfüllt sind. Wie auch immer diese Prüfung ausfällt: Was spricht unverändert gegen den politischen Masochismus, einen kleinasiatischen Großstaat mit (bis 2010) 90 Millionen Muslimen, unter denen der Islamismus rapide vordringt, als größtes Mitglied in die EU aufzunehmen?

Die Europäer haben es in den vergangenen 50 Jahren peinlich vermieden, die Grenzen Europas zu definieren. Das historische Europa und die Türkei gehören jedoch zwei denkbar unterschiedlichen Kulturkreisen an, die durch tiefe Gräben getrennt sind. Über sie kann man sich nicht blindlings hinwegsetzen. Tritt die Türkei der EU bei, gewinnt eine derart aufgeblähte Union außerdem neue Grenzen nach Osten, wo es so charmante Nachbarn wie die Diktatur in Syrien, den chaotischen Irak, die Theokratie der Mullahs in Iran und zwei erodierende Staaten wie Armenien und Georgien gibt. Wie kann man sie sich freiwillig wählen? Wer wird sich das explosive Kurdenproblem freiwillig aufladen? Wie einschneidend die kulturelle Grenze ist, erkennt man auch daran, dass die türkische Politik und Geschichtsschreibung bis heute den genozidähnlichen Massenmord an 1,5 Millionen christlichen Armeniern (1915/16) leugnet, möglichst stillschweigend auch über den Massenmord und die Vertreibung von 1,5 Millionen orthodoxen Griechen fünf Jahre später hinweggeht. Entspricht dieses Totschweigen der angestrebten Zugehörigkeit zur europäischen Wertegemeinschaft?

Wie tief die Türkei trotz ihres neurotischen Drängens, als europäisch anerkannt zu werden, von Europa getrennt ist, ist auch daraus ersichtlich, dass der Islamismus seit den 80er Jahren offenbar unaufhaltsam vordringt. Den ersten islamistischen Ministerpräsidenten, Erbakan, hat das Militär noch kurzerhand abgesetzt. Seine „Wohlfahrtspartei“ ist kosmetisch in die „Gerechtigkeitspartei“ Erdogans umgewandelt worden, der praktisch eine Einparteienherrschaft ausüben wird. Warum gibt man ihm zur Zeit einen derart naiven Vertrauensvorschuss?

Die ökonomischen Probleme können nur abschrecken. Die türkische Wirtschaft, weit entfernt von einer funktionstüchtigen Marktwirtschaft, erreicht nur 20 Prozent des europäischen Durchschnitts. 2002 ist sie zudem um volle zehn Prozent geschrumpft. Nach extrem vorsichtigen Schätzungen benötigte die Türkei nach einem Beitritt jährlich mindestens 40 Milliarden Euro an Zuschüssen.

Die unvermeidbare Freizügigkeit hätte auf längere Sicht fatale Folgen. Zur Zeit gibt es (mit den Auslandstürken) 75 Millionen Türken. Jahrzehntelang lag die demographische Wachstumsrate bei 3,5 Prozent. Selbst wenn man bis 2010 nur 2,5 Prozent annimmt, kommt man auf 90 Millionen Türken. Die Bundesrepublik hat zwischen 1950 und 2000 die relativ höchste Zuwanderungsrate der Welt, mit der die Politik, die Kirchen, die Gewerkschaften bisher bravourös fertig geworden sind. Kommen aber noch einmal drei Millionen in unsere Städte, werden alle Sehnen überdehnt, und die ohnehin gefährdete Integration der bisher anwesenden Türken wäre zum Scheitern verurteilt.

Der Autor ist Historiker und lehrte an den Universitäten von Köln, Bielefeld und Berlin.

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