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Meinung: Die wahre K-Frage!

Warum die Kulturwirtschaft trotz Kürzungen und Klagen boomt und eine offensive Kulturpolitik für neues Wachstum kämpft

In Deutschland hat der Untergang des Abendlandes Tradition, seit Oswald Spenglers legendärer, gleichnamiger Schrift. Vor allem, wenn es um die Kultur geht. Die gilt als bedroht: vom Fernsehen, von der „Bild“, von Pisa-Gründen und manch anderem Abgrund. Das größte schwarze Loch, das der Kultur derzeit in Deutschland droht, zeigen indes die öffentlichen Haushaltskassen.

In der Finanzkrise wollen die öffentlichen Hände der Finanzminister, Finanzsenatoren und kommunalen Kämmerer auch den Kultur- und Bildungsinstitutionen an die Gurgel. Da ist ein allgemeines Klagen und Würgen, sogar der Deutsche Bundestag hat inzwischen, sorgenvoll, eine Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ berufen. Sie soll eruieren, was womöglich erodiert, und Rettungsvorschläge vorlegen für die mit ihren Theatern, Opern, Orchestern und Museen im internationalen Vergleich noch immer unvergleichlich dichte deutsche „Kulturlandschaft“.

Womit sich schon andeutet, dass hier eine Verarmungsdebatte im relativen, ja oft sogar absoluten Reichtum stattfindet. Allerdings heißt es dann auch immer wieder: So viel öffentlich geförderte Kultur sei „ein Luxus, den wir uns nicht mehr leisten können“. Das sagen, mit Blick auf die „Tempel der „Hochkultur“, vor allem sozialdemokratische Politiker. Weil die Unterstützung einer stolzen, teuren Oper angesichts ärmlicher, von Schließungen bedrohter Kindertagesstätten gar nicht sozial sei. Und nicht mal demokratisch, da nur eine Minderheit der Steuerzahler jemals eine Oper besuche.

Das klingt für Kulturverteidiger im ersten Moment immer ein wenig beschämend. Auch wenn die Alternative Oper oder Kita ungefähr so sachlich ist, wie die Frage an Kriegsdienstverweigerer, was sie machen, wenn ein Einbrecher mit der Axt gerade die eigene Mutter bedroht. Tatsächlich bleibt wohl keine Kita offen, weil ein Theater schließt, zumal etwa in Berlin eine solche Schließung, ungeachtet aller Abwicklungskosten, mit den Schuldzinsen weniger Tage verpufft wäre. Im Übrigen finanzieren Radfahrer auch Autobahnen, und wir alle zahlen für Gefängnisse, Krankenhäuser oder Friedhöfe, obwohl wir die persönliche Nutzung eher zu vermeiden suchen. Soviel zu Demokratie und Steuermitteln.

Aber ist Kultur überhaupt ein „Luxus“? Dies wird ja sogar von ihren Verteidigern gerne behauptet – mit dem feierlichen Zusatz, sie sei ein „notwendiger Luxus“. Und unterstellt, sie ist ein solcher Luxus, lässt sich immer noch fragen, ob Kulturinstitutionen darum notwendiger Weise auch aus öffentlichen Geldern und nicht etwa überwiegend privatwirtschaftlich finanziert werden sollten.

Drei Fragen, drei Antworten: Fangen wir mit dem Notwendigen an. Das Attribut meint die ideelle Dimension des biblischen Satzes „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein“. Verstehen wir Kultur als Inbegriff der zivilisatorischen Ordnung und Verständigung einer Gesellschaft, als Summe aller künstlerischen, philosophischen, wissenschaftlichen, emotionalen Erfahrungen und Erfindungen, dann bestimmt Kultur wohl das, was wir ein besseres und schöneres Leben nennen. Gerade in Zeiten der Globalisierung bedeutet Kultur über das individuelle Schicksal hinaus auch ein Moment sozialer Identitätsstiftung und politischer Wertentscheidung. Kultur ist eben das, was uns im Innersten zusammenhält. Und damit auch von Kulturen mit anderen Wertvorstellungen trennt. Das macht den Unterschied von Kulturen im West-Mittelost-Konflikt zur Zeit so brisant.

Jedenfalls wäre Kultur insoweit kein Luxus, kein Überfluss, sondern immer nur der Ausfluss menschlichen Lebens. Trotzdem gibt es die „Luxus“-Debatte, immer aufs Neue entfacht durch prunkvolle Festspiele, glänzende Museumsneubauten oder die schlichte Zahl von knapp 95 Euro, mit denen im Durchschnitt jeder (verkaufte) Sitzplatz in den deutschen Stadt- und Staatstheatern aus öffentlichen Geldern unterlegt ist.

Fragen wir nun nach dem Kulturstandard, den wir uns als Lebensstandard auch künftig noch leisten wollen oder leisten können, dann ist eines klar: Rein betriebswirtschaftlich und marktwirtschaftlich werden sich personell und technisch aufwändige Kulturproduktionen – Symphonien, Opern, große Schauspiele – für sich genommen nicht rentieren. Wenn nicht Popgruppen oder die Drei Tenöre Fußballstadien füllen, dann sind Kunstveranstaltungen zu kostbar, eigentlich unbezahlbar und jedenfalls zu teuer, um sich unmittelbar durch den Kartenverkauf zu amortisieren. Lassen wir einmal seriell produzierte Musicals oder kleinere kommerzielle Privattheateraufführungen beiseite, dann scheinen sich die genannten Kulturproduktionen nicht zu rechnen.

Nicht einmal der tolle Erfolg der privat initiierten Ausstellung des „MoMA in Berlin“ ist da ein Gegenbeweis. Aber auf die MoMA-Millionen kommen wir noch. Und das wahrhaft Erstaunliche bei der ganzen Sache ist etwas anderes.

Denn Kultur rechnet sich doch. Nicht etwa nur ideell. Nein, volkswirtschaftlich rechnet sie sich ganz ungeheuer. Deutschland gibt für die so genannte öffentliche Kultur, gefördert von den Kommunen, Bundesländern und punktuell auch von der Bundesregierung, im Jahr 2004 ziemlich genau acht Milliarden Euro aus (einschließlich Kunsthochschulen, ohne sonstige Bildungseinrichtungen und wissenschaftliche Institute). Dabei sanken die Zuschüsse in den letzten Jahren zwar um jeweils zwei Prozent, was aber, anders als bei verrottenden Schulen oder geschundenen Unis, noch keine „Kahlschlag“-Klagen rechtfertigt.

In der Regel liegen die kommunalen und landeseigenen Kulturausgaben bei maximal zwei Prozent der öffentlichen Haushalte, und die acht Milliarden bedeuten knapp 0,4 Prozent des deutschen Bruttoinlandsproduktes. Das verraten die im jüngsten „Jahrbuch für Kulturpolitik“ veröffentlichten Statistiken. Die ökonomische Wertschöpfung für die deutsche Volkswirtschaft betrug 2001 im Kulturbereich inklusive der privatwirtschaftlichen Film- und Musikindustrie sowie der Buchverlage knapp 32,5 Milliarden Euro. Auch in deren Produktionen stecken allerdings mannigfach öffentliche Gelder. So tragen weniger als zwei Prozent der öffentlichen Ausgaben immerhin zu gut zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes bei.

Die Wertschöpfung im Kulturbereich lag nach den zuletzt für 2001 ausgewerteten Zahlen gleichauf mit dem Ernährungssektor (32,5 Milliarden Euro); sie lag klar vor der Gastronomie oder Land- und Forstwirtschaft (24,5 Milliarden), während die Chemiebranche beispielsweise mit 43 Milliarden Euro firmiert. Diese Zahlen, nachzulesen in den von Bundestagsvizepräsident Norbert Lammert herausgegebenen „Beiträgen zur Debatte über Kulturstaat und Bürgergesellschaft“ (DuMont, 2004), wirken eindrucksvoll. Und verblüffender als der von Kulturpolitikern gegenüber ihren Finanzkollegen meist nur defensiv gebrauchte Verweis auf die kulturelle „Umwegrendite“.

Damit wollen die Anwälte der Kreativen nicht nur daran erinnern, dass die 780000 in Kulturberufen Erwerbstätigen auch Steuerzahler sind. Gemeint ist vielmehr, dass der Betrieb von Theatern, Opernhäusern, Konzertsälen und Museen weitere wirtschaftliche Nebeneffekte im Handwerk oder in der Gastronomie bewirkt und Kultur überhaupt einen immer wichtigeren Tourismus- und Standortfaktor darstellt. Das gilt besonders für die sonst wirtschaftsschwache Hauptstadt Berlin, deren größtes Kapital Kultur und Wissenschaft sind. Doch wächst die Rolle der Kultur ganz generell mit sozialen und ökonomischen Veränderungen.

Ästhetische Impulse und kreative Energien sind gleichsam der zweite Wind einer postindustriellen Gesellschaft, in der die Software zunehmend wichtiger wird als die Hardware; in der mit immer älteren und noch agilen Menschen neben dem Gesundheits- und Dienstleistungsbereich der Freizeitindustrie die Zukunft gehört. Auch für die, die künftig wieder mehr arbeiten, wird die Freizeit kostbarer, und das gilt mit neuen Sinnstiftungen gleichfalls für die Arbeitslosen. Spätestens hier kreuzen sich dann wieder Sozial-, Kultur- und Bildungspolitik.

Vom „Kulturbetrieb als Wachstumsbranche“ spricht jetzt auch, zur Mitte ihrer Amtszeit, Kulturstaatsministerin Christina Weiss. Für Kunstliebhaber klingen solche Formeln ebenso wie alle ökonomischen Zahlenspiele immer ein wenig schnöde – als sei das nur eine Instrumentalisierung der Künste. Tatsächlich aber sind Zahlen und Fakten in materiellen Krisenzeiten für die Kulturpolitik überlebenswichtig. Der Statistiker und Soziologe Michael Söndermann berichtet soeben in einer Studie im Auftrag der Kulturstaatsministerin: „In den Jahren zwischen 1995 und 2003 stieg die Zahl der Erwerbstätigen in den Kulturberufen um 31 Prozent. Das Wachstum der gesamten erwerbstätigen Bevölkerung hingegen stagniert im gleichen Zeitraum bei null Prozent.“ Mit 780000 Beschäftigten – davon sind knapp die Hälfte Selbständige – erreicht die Kultur einen Anteil von 2,2 Prozent der gesamten erwerbstätigen Bevölkerung in Deutschland. Zum Vergleich: Die deutsche Automobilindustrie beschäftigte letztes Jahr rund 620000 Menschen, also nur 1,7 Prozent der Erwerbstätigen.

Gewiss überwiegen in diesen Zahlen die freien Künstler und privat wirtschaftende Kulturberufler (den höchsten Zuwachs verzeichnen hier Grafiker und Designer). Trotzdem ist das Netz öffentlich geförderter Kulturinstitutionen, das sich seinerseits mit dem privaten Sektor immer wieder verknüpft, kaum zu ersetzen. Das zeigt sich in den USA. Dort gilt Deutschland, ausgenommen für die Film- und Popindustrie sowie für eine Hand voll Orchester, als kulturelles Paradies. In Bereichen, wo rein privatwirtschaftlich gerechnet werden muss – etwa am Broadway – ist es seit langem unmöglich, noch einen Sophokles, Shakespeare, Molière oder auf künstlerischem Niveau ein personenreicheres Zeitstück zu inszenieren. Arthur Miller sagt, ihn würde es heute als jungen Autor in Amerika nicht mehr geben.

Trotzdem existiert auch öffentliche Kultur in den USA, etwa in den Museen. Nur beruht sie auf einer Umwegfinanzierung, indem private Kunstsammlungen als Schenkungen von der Erbschaftssteuer befreit sind. Hier zahlt die Gesellschaft mit Steuerausfällen statt mit Steuergeldern; wobei ähnliche Stiftungsmodelle zur Stärkung des zivilgesellschaftlichen Engagements in Deutschland durchaus wünschenswert wären. Als Ergänzung freilich. Nicht als Ersatz.

Denn auch die Privatinitiative der Ausstellung „MoMA in Berlin“ war mit ihren 1,2 Millionen Besuchern nur möglich durch das Zusammenspiel mit der staatlichen Neuen Nationalgalerie, die dem Event die Bühne bereiten konnte, während die Bundesregierung für die sonst unbezahlbare Versicherung der Kunstwerke bürgte. Diese Kooperation war beispielhaft – aber „Events“, auch Festivals, sind unmöglich oder verzischen wie Feuerwerksraketen, wenn sie nicht das Fundament fester kultureller, auch institutioneller Strukturen haben.

Kultur boomt. Trotz aller kassandrischer Unkenrufe und Kürzungsdebatten. An diesem Wochenende wurden mit der Berlinischen Galerie, mit dem Kunstmuseum Stuttgart und der Sammlung Burda in Baden-Baden wieder drei spektakuläre neue Museen eröffnet; und selbst die deutschen Theater und Opern melden gerade 20 Millionen Zuschauer im letzten Jahr, mit steigender Tendenz. Da wünschen sich dann Geistesköpfe wie Nike Wagner von der Stiftung Weimarer Klassik die Kultur gleich als „Staatsziel“ ins Grundgesetz.

Das wäre freilich nur eine Deklaration. Die Grundwertentscheidungen sind ja längst gefallen, auch der deutsche Vereinigungsvertrag hatte die Bundesrepublik darum zur Erhaltung der kulturellen Substanz der neuen Bundesländer verpflichtet. Falsch war nur, die Kulturinstitutionen auch dort noch ins Korsett des Öffentlichen Dienstes zu stecken, als man längst wusste, dass dessen Kosten Kunst und Kultur mit einschnüren. Doch auch bei neuen Stiftungs-Modellen oder Kultur-GmbHs bleibt die öffentliche Hand gefragt. Sie muss dabei auf interne Sparsamkeit drängen – und zugleich den unbezahlbar preiswerten Luxus der Künste fördern.

Also heißt es: Kulturpolitiker, raus aus den Schwermutshöhlen! Es geht ja nur um zwei Prozent der öffentlichen Etats. Das macht die dauernden Kulturspardebatten, zumal in Berlin, so absurd und manchmal hysterisch. Von den kleinen – eher zu steigernden – Kulturausgaben hängen die großen gegenwärtigen Schulden nicht ab. Nur die aktuellen und zukünftigen Gewinne. Frei nach Bill Clinton könnte man sagen: „It’s culture, stupid!“

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