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Was WISSEN schafft: Die Welt in uns

Wie Halluzinationen unsere Wahrnehmung bestimmen können.

Von Anna Sauerbrey

Während Sie diesen Text lesen, sind Sie wahrscheinlich sicher, tatsächlich diesen Text zu lesen. Sie spüren vielleicht den Stuhl, auf dem Sie sitzen oder hören das Rascheln des Zeitungspapiers. Was aber, wenn ein Dämon die Macht über all Ihre Sinne gewonnen hat und Ihnen eine Welt vorgaukelt, die es gar nicht gibt?

Die Frage, ob und wie wir sicheres Wissen über die Welt gewinnen können, ist beinahe so alt wie die Philosophie. Das bekannteste Gedankenexperiment der Erkenntnistheorie ist neben Platons Höhlengleichnis wahrscheinlich das eben verwendete, der Dämon von René Descartes. Statt des vom Dämonen Besessenen stellt sich die Philosophie heute allerdings häufiger das „Gehirn im Tank“ vor, das friedlich in einer Nährlösung vor sich hin schwimmt und eine Welt außerhalb des Tanks herbeihalluziniert – wie im Film „Matrix“. Doch nicht nur im Gedankenexperiment spielt das Gehirn heute ein Rolle für die Erkenntnisphilosophie. Längst hat sie sich der Neurowissenschaft angenähert. In einem neuen Sammelband, der Beiträge von Philosophen und Psychiatern versammelt, versucht die schottische Philosophin Fiona Macpherson eine Systematisierung unterschiedlicher philosophischer Positionen im Abgleich mit der Hirnforschung („Hallucination“, The MIT Press).

Die Philosophie unterscheidet grob zwei Typen von Wahrnehmung. Zum einen die wahrheitsgemäße Wahrnehmung: Person A nimmt einen roten Ball wahr, und der Grund dafür ist, dass sie tatsächlich einen roten Ball sieht. Andererseits die Halluzination: Person B nimmt einen roten Ball wahr, der existiert allerdings nicht. Eine Frage, die sich die Philosophie stellt, ist, ob die subjektiven Wahrnehmungen von Person A und Person B trotzdem identisch sind. Und falls es keinen Unterschied gibt, kann man weiterfragen: Lassen sich überhaupt zuverlässige Aussagen über die Welt treffen?

Eine Extremposition, die der „Idealisten“, verneint, dass es eine Außenwelt gibt, die unabhängig von unserer Wahrnehmung existiert. Aus Sicht der Realisten gibt es durchaus eine Welt unabhängig von unserer Wahrnehmung, sie ist von uns „entkoppelt“. Eine Schule unter den Realisten, die Macpherson besonders interessiert, meint, dass daher auch die Natur von Halluzination und wahrheitsgemäßer Wahrnehmung nicht identisch seien – schließlich ist ihre Ursache jeweils eine andere. Einmal gibt es den roten Ball, einmal nicht.

Auch die Neurowissenschaft stellt sich die Frage, ob in den Köpfen von Menschen, die halluzinieren, das Gleiche geschieht, wie in den Köpfen von Menschen, die tatsächlich etwas sehen. Der Psychiater Dominic Ffytche etwa blickt in Macphersons Sammelband zurück auf die Forschung zum Charles- Bonnet-Syndrom, das sind Halluzinationen, die etwa Menschen haben, die erblinden. Ffytche und andere haben untersucht, ob diese Bilder eher in Hirnregionen entstehen, die für visuelle Erinnerungen zuständig sind oder in Hirnregionen, die aktuelle visuelle Wahrnehmungen verarbeiten. Vieles deutet darauf hin, dass tatsächlich diejenigen Regionen aktiv sind, die auch für das reguläre Sehen zuständig sind. Aus philosophischer Sicht stärkt das die Position, die dem Menschen einen unmittelbaren Zugang zur Welt abspricht.

Bei manchen akustischen Halluzinationen allerdings zeigt sich ein anderes Bild, wie Richard Bentall und Filippo Varese in „Hallucination“ zeigen. Ihrer Beobachtung nach liegt der „Defekt“ bei Halluzinierenden häufig nicht darin, dass derselbe neuronale Zustand entsteht, sondern dass manche Personen nicht zwischen unterschiedlichen neuronalen Zuständen unterscheiden können, zum Beispiel nicht, ob Stimmen von außen oder von innen kommen. Aus philosophischer Sicht stärkt das die Realisten, die meinen, dass uns zumindest manchmal ein direkter Zugang zur Welt zur Verfügung steht.

Macpherson schlägt vor, das Gehirn in der Philosophie weniger als den „Produzenten“ von Wahrnehmung zu betrachten, sondern vielmehr als ein Hilfsmittel. Als eine Maschine, deren Aufgabe es ist, die Linse, durch die wir auf die Welt blicken, zu justieren. Funktioniert das Gehirn auf die „richtige“ Weise, öffnet es „ein Fenster auf die Welt“. Ist die Anpassung der Linse nicht korrekt, halluziniert der Betrachter.

Macpherson ist nicht die Erste, die im Abgleich mit der Naturwissenschaft philosophische Modelle modifiziert. Interessant ist, dass sie umgekehrt auch Neurowissenschaftlern und Medizinern die Auseinandersetzung mit der Philosophie empfiehlt. Ein Arzt, der die große Skepsis vieler kennt, ob Menschen überhaupt in der Lage sind, zwischen wahrhaftigen und nicht wahrhaftigen Zuständen zu unterscheiden, schickt vielleicht einen Patienten mit Rückenschmerzen, aber ohne physiologischen Befund, nicht so schnell einfach wieder nach Hause.

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