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Die Märkte sind zunehmend eine Parallelgesellschaft. Wer versteht sie noch, wer kontrolliert sie?

© dpa

Politischer Essay: Die Welt ist aus den Fugen

Im Krisensommer 2011 offenbart sich der desaströse Zustand unserer Demokratien. Eine übermächtige Finanzwirtschaft führt Politik und Eliten vor.

Da geht der Kaiser, in die schönsten Kleider gehüllt, die je ein Schneider geschaffen hat. Sie sind aus feinem Lügengespinst und doch aus dem stärksten Gewebe, das die menschliche Gemeinschaft kennt, der Angst nämlich, nicht dazu- zugehören. Wer des Kaisers neue Kleider nicht sieht, ist ja dumm und taugt nicht für seine Ämter. Der Konformitätsdruck in Andersens Märchen scheitert bekanntlich am unbefangenen Kind. „Aber er hat ja gar nichts an!“ ruft zuletzt das ganze Volk.

So weit sind wir noch nicht. In diesem Sommer sind wir vollends in den Bann geraten, der uns nach Art der Schlange Kaa die Köpfe dumm und schwindelig macht. Täglich schalten die Fernsehsender zu den Börsen, um die unausweichliche Frage zu stellen: Wie reagieren „die Märkte“ – jene nervösen und unruhigen Sensibelchen, auf die es vor allen anderen ankommt? Dabei müsste es Politikern und Bürgern doch darum gehen, deren Macht zu brechen. Seit dem Crash von 2008 wissen wir, dass nichts so irrational, gefährlich und unproduktiv ist wie das Meuteverhalten der Finanzakteure, die keinem anderen als dem eigenen Nutzen folgen.

Die Finanzwirtschaft durchdringt die Welt nun seit einem Vierteljahrhundert. Nicht finstere Diktaturen haben sie geschaffen. Sie ist ein originäres Kind der demokratischen, westlichen Nationen, die am Ende des letzten Jahrhunderts den ökonomisch Mächtigen die Fesseln ersparen wollten, die der Wohlstandskapitalismus ihnen auferlegt hatte. Verständlich. Neue Konkurrenzverhältnisse zeichneten sich ab. Jeder Staat meinte, „seine“ Wirtschaft optimal in Stellung bringen zu müssen, indem Kosten gesenkt, Verpflichtungen gelöst und außerdem sagenhaft viel Geld verdient werden konnte.

Dieser neue Kapitalismus hat die Ideale und Stärken der Demokratien in einem Maß untergraben, wie kein äußerer Feind es gekonnt hätte. Die „Märkte“ sind zur Parallelgesellschaft des 21. Jahrhunderts geworden. Sie können jenseits der für alle anderen gültigen Maßstäbe von Haftung und Verantwortung handeln. Sie sind im Vorteil, denn sie kennen die Regeln der Vielen und nutzen sie zu ihrem Zweck, während die Vielen die Mechanismen weder durchschauen noch beherrschen können, mit denen Ratingagenturen ganze Staaten abstufen oder Hedgefonds mit Leerverkäufen auf Verlust und Niedergang von Nationen wetten. Sie sind immer im Vorteil, denn sie verdienen nicht nur an konstruktiven Erfolgen, sondern auch an Niederlagen und Pleiten.

Die Krisen, die nach den Explosionen privater und öffentlicher Schulden heute auszubaden sind, bestimmen die Debatten Europas und der USA. Schlimmer aber als alle Handlungszwänge sind die Gedankengefängnisse, in denen Politik und Eliten stecken. Die Demokratien haben sich vom neuen Finanzkapitalismus ihr Selbstbewusstsein abkaufen lassen. Der Aufstieg der Demokratie war nicht möglich ohne die soziale und rechtliche Zivilisierung des Kapitalismus, ohne die Zurücksetzung der Macht der ökonomisch Stärkeren. Die alternden Demokratien kapitulieren vor ihr.

Man kann sagen: kein Wunder, denn wer müsste sonst nicht mächtig Asche auf sein Haupt streuen. Erst die Deregulierungseuphorie demokratischer Regierungen hat den sagenhaften Aufstieg der Finanzoligarchie möglich gemacht, und die Nebenwirkung trat sofort ein – die abrupt sinkende Fähigkeit zur politischen Selbstkorrektur. Noch eindrucksvoller als die Liste des zahlreichen Finanzcrashs ist die Unfähigkeit, daraus Konsequenzen zu ziehen. Denn anstelle der demokratietypischen Kontroversen trat ein seltsamer Konformismus des Diskurses um Markt und Staat. Letzterer galt und gilt in einem Maß als dumm, dass man fast vergessen könnte, dass gerade Händler des großen Geldes auf die Rechts- und Eigentumsgarantien von Staaten und Notenbanken vollständig angewiesen sind.

"Gegen die Märkte kann man nicht" - lesen Sie mehr im zweiten Teil.

Privatisierung und Deregulierung gewannen, pragmatisch getarnt, die Macht von Dogmen. „Gegen die Märkte kann man nicht“, befand Margaret Thatcher. Ihr Credo „there ist no alternative“ wurde zum Schlachtruf des neoliberalen, aber parteiübergreifenden Mainstreams. Die westliche Welt, Politiker nicht weniger als Ökonomen oder Philosophen, hatte beim Übergang von der alten Systemkonkurrenz in die Globalisierung „die Märkte“ mit dem höchsten Gütesiegel der Demokratie geadelt. Das Freiheitsbanner wurde an die siegreiche Marktwirtschaft übergeben. Denn die „Freiheit der Märkte“ garantiere Erfolg und Chancen in der globalisierten Weltwirtschaft.

Diese Art Freiheit lehrte die Menschen schnell das Fürchten. Sie nahmen die radikale Marktfreiheit als drastische Verschiebung der Kräftekonstellation zwischen Politik und Wirtschaft wahr, zu ihren Lasten. Aber der Geist der neuen Zeit fiel auf den fruchtbaren Boden einer hoch individualisierten Gesellschaft, in der jeder seine Chancen selbst suchen will. So weit wie Thatcher ging niemand in Europa, die nur noch Familien und Individuen kannte: „There is no such thing like society.“ Aber als Staatsverachtung machte die Geringschätzung von „society“ überall Karriere – eine ideologische Wunderwaffe zur Rechtfertigung aller möglichen Einschränkungen öffentlicher Leistungen, inklusive der Polizei. So weit wie in Großbritannien ist der Zerfall nirgendwo sonst in Europa gegangen. Aber überall, auch in Deutschland, hat die soziale Ungleichheit in einem Maß zugenommen, das zu Beginn des Jahrtausends schwer vorstellbar war – ein großes Thema ist sie nicht, auch nicht für die Volksparteien.

Der Finanzkapitalismus hat den Anspruch paralysiert, auf dem Primat der Politik zu bestehen. Wer glaubt noch daran, dass legitimierte Politik dem Gemeinwohl im Zweifel Vorrang verschaffen kann vor Partikularinteressen aller Art? Schlimmer als die Handlungszwänge sind die Gedankengefängnisse, in die sich die demokratischen Öffentlichkeiten begeben haben. Es wird kaum gedacht und selten gesagt, dass es weiter schieflaufen wird, wenn die Politik ihre Handlungsfreiheit gegenüber den „Märkten“ nicht zurückerobern will.

Stattdessen bedient sie mit ihren Gipfeln die medialen Aufmerksamkeitsregeln, obwohl das Volk sich längst nicht mehr davon beeindrucken lässt –, und wartet dann zitternd auf die Reaktion anonymer Heckenschützen. Den Medien ist nicht selten Schadenfreude anzumerken, wenn es wieder heißt: „Weltmärkte reagieren enttäuscht“. So wird die Politik immer wieder auch als der unpopuläre Hauptfeind präsentiert, der einfach zu beschränkt ist, die coolen Märkte zu verstehen. Leitartikel und Wirtschaftsseiten geben vor, die Mechanismen von Leerverkäufen, Derivaten, Hegden oder Outperformen zu verstehen. Tatsächlich beeindrucken sie nur mit dem Insiderbluff, der alle zum Schweigen bringen kann, weil sich niemand mit dummen Fragen blamieren will.

In ihrer Geringschätzung der Politik können die Medien sich großer Zustimmung sicher sein. Nicht aber in in ihrem Respekt für die Raffinesse der Märkte. Denen trauen die meisten Bürger nur noch das Schlechteste zu. Den Medien übrigens auch. Man muss, um das zu verstehen, nicht erst nach Italien oder England sehen. Das Vertrauen breiter Bevölkerungsschichten ist dramatisch gesunken, dass die öffentlichen Eliten, dass Politik, Medien, Wirtschaft ihre Rollen im demokratischen Gefüge so spielen, wie es die Verfassungen vorsehen. Nicht gegenseitige Kontrolle im Interesse des Gemeinwohls sehen die Bürger, sondern abgehobene und untereinander verbandelte Kasten, Reiche und Einflussreiche, die am großen Rausch partizipieren.

Schirrmacher und die Linke - lesen Sie mehr im dritten Teil.

Der Krisensommer 2011 legt den Blick frei auf einen desaströsen Zustand der westlichen Welt. Die Weltfinanzkrise ist als Schuldenkrise zurückgekehrt, die, wie es scheint, nur die Staaten und ihre begehrlichen Bürger zu verantworten haben. Mit einer erstaunlichen Neigung zur Selbsterniedrigung machen Politiker diese eindeutige Zuteilung der Verantwortung mit. Es ist nicht einmal mehr marktwirtschaftliche Selbstverständlichkeit, dass auch die Gläubiger haften und draufzahlen, wenn sie allzu locker Kredit gewährt haben.

Die Politik wird eingeholt von ihrem Versagen nach 2008. Da war sie zwar gut genug, mit dem Geld der Steuerzahler die Banken zu retten. Aber zu feige, um den Stier bei den Hörnern zu packen. „Too big to fail“? Das sind die großen Banken immer noch. Sie haben aus dem Krisenmanagement von 2008 die antimarktwirtschaftliche Lehre gezogen, dass sie im Zweifel eine Vollkaskoversicherung bei den Staaten haben. Die Bürger lernten das Gegenteil. Die Milliarden, die aufgebracht werden mussten, haben die Staatsschulden erhöht. Verdoppelt in Spanien, vervierfacht in Irland, um 20 Prozent gesteigert in Deutschland. Auf Kredite und Konjunkturpakete für die Bankenkrise folgt der Sachzwang: Sparen für solide Haushalte. Wieder nicht zu zahlen von Bankern, sondern von Rentnern, Familien, Normalos.

Wenn dieser Krisensommer Anlass zu Hoffnungen gibt, dann sind es die Risse im Gewebe jenes Konformismus, der uns in seinen Bann geschlagen hat. In ihrer Not verbieten vier Staaten Aktienleerverkäufe, und niemand beklagt einen Anschlag auf die Freiheit. Die Finanztransaktionssteuer wird diskutabel. Die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ macht das Bekenntnis des altgedienten britischen Thatcher-Biographen Charles Moore groß auf: „Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat“. Herausgeber Frank Schirrmacher parallelisiert den britischen Widerruf mit den aktuellen Wertediskussionen in der CDU. Durch die unverständlichen Tagesdebatten um Euro-Bonds, Rettungsmechanismen, Schuldenbremsen dringen neue Töne. „Tax me“ – „Besteuert mich“ rufen in Frankreich, den USA oder Deutschland die Reichen, die am Steueraufkommen ihrer Länder immer weniger beteiligt sind.

Je größer die Vermögen in einem Land, desto höher die Schulden, sagen die Ökonomen Peter Bofinger und Max Otte der „Süddeutschen Zeitung“. Otte befüchtet, dass die Inflationsangst begründet ist. Denn: „Die Staaten haben die Schulden nicht im Griff, und gleichzeitig wird die Finanzoligarchie begünstigt. Wir schützen die Reichen, die den Staat gekapert haben.“

Längst kursiert im Alltagsbewusstsein eine Liste offener Geheimnisse, die angestrengt vertuscht werden, weil sie jeder kennt. Dass die Politik nicht mehr viel zu bestellen hat, wissen die gebildeten Bürger, die deshalb laut für ihren Nahbereich kämpfen, für die gute Schule, gegen Flugschneisen und Bahnhöfe. Das wissen die 30, 40, 50 Prozent der europäischen Bevölkerungen, die gar nichts mehr von der Politik erwarten. Jahrelang haben sie zugeschaut, wie sozialdemokratische, liberale und konservative Regierungen den öffentlichen Sektor abgebaut haben, weil „Privat vor Staat“ zum Dogma ihrer Regierungen wurde. Diese Bürger sind fertig mit ihren Parteien, beinah fertig aber auch mit einer Demokratie, die sie als Veranstaltung wahrnehmen, die nur noch von und für die Besserverdienenden gemacht wird.

Hätte das katastrophale Ausmaß der europäischen Jugendarbeitslosigkeit die Titelseiten deutscher Zeitungen ohne die britischen Jugend- und Kinderkrawalle je erreicht? Es war wirklich ein Urknall, der „Big Bang“, mit dem Margaret Thatcher vor 25 Jahren die regulierenden Fesseln gelöst hat, der die Londoner City zum größten Finanzplatz der Welt aufsteigen ließ. Die gediegenen britischen Geldhäuser wichen amerikanischen Banken und ihrer hektischen amerikanischen Finanzwelt. Die Citybanker verdienten bald das Zehnfache der früheren Gehälter. Der blendende Glanz aber wurde bezahlt mit dem Abstieg des ganzen Landes. Großbritannien hat der Finanzökonomie seine Realwirtschaft geopfert. Und seine Jugend. Am Ende ist es traurige Wirklichkeit: No Society.

Die Welt ist aus den Fugen geraten. Denn Marktwirtschaft ist nicht mehr Marktwirtschaft, wenn der erpresserische Druck der Finanzakteure groß genug ist, ihre Risiken immer wieder bei den Steuerzahlern abzusichern. Und Demokratie ist nicht mehr Demokratie, wenn sie nicht mehr hält, was sie verspricht, nämlich eine gesellschaftliche Ordnung, in der die ganz normalen Leute über ihr Leben mitbestimmen und mitreden können.

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