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Digitales Gedächtnis: Wie ein Film, der nie aufhört

Im digitalen Zeitalter wird nichts mehr vergessen. Die Vergangenheit ist stets gegenwärtig – auch als Bürde und Last. Der Fluch der Erinnerung erschwert jeden Neubeginn.

Seit Beginn der Menschheitsgeschichte war das Vergessen für uns Menschen die Regel und das Erinnern die Ausnahme. Durch die Digitaltechnologie und die globale Vernetzung hat sich dieses Verhältnis jedoch verschoben: Aufgrund der weiten Verbreitung digitaler Techniken ist das Vergessen heute zur Ausnahme und das Erinnern zur Regel geworden.

Wenn wir bemerken, wie leistungsstark und allumfassend Googles digitales Gedächtnis ist oder das Gedächtnis der Auskunfteien, Reisebuchungssysteme, Telefongesellschaften und Strafverfolgungsbehörden, sind wir überwältigt. Auch unsere eigenen digitalen Datensammlungen – sei es auf dem PC, im digitalen Videorekorder, in den Speicherkarten unserer Fotoapparate oder in unseren Musikabspielgeräten – sind massiv angewachsen und ermöglichen uns den Zugriff auf Informationen, die unser Gehirn längst entsorgt hat. Wir spüren, dass uns die Fähigkeit zum Vergessen abhandenkommt und das Erinnern neuerdings der Normalfall ist. Und obwohl das Erinnern fraglos Vorzüge hat, kann es, wenn es überhandnimmt, dramatische Folgen zeitigen. Datenschutzexperten warnen seit Jahren vor einigen dieser Folgen.

Tatsächlich ging die moderne amerikanische Diskussion über die Privatsphäre von Widerständen gegen ein umfassendes digitales Gedächtnis aus. Arthur Miller schrieb sein berühmtes, 1971 erschienenes Buch „The Assault on Privacy“ („Der Einbruch in die Privatsphäre“), als Pläne der amerikanischen Regierung zur Einrichtung einer umfassenden nationalen Datenbank bekannt wurden. Und das erste Datenschutzgesetz der Welt, 1970 im Bundesland Hessen erlassen, war eine unmittelbare Reaktion auf ähnliche Pläne in Deutschland. Auch andere haben den überhandnehmenden Einsatz von Überwachungstechniken zur Nachverfolgung menschlicher Aktivitäten eindringlich kritisiert. Sie warnten, dass wir damit die digitale Version von Jeremy Benthams Panopticon schaffen würden.

Vor mehr als zweihundert Jahren entwickelte Jeremy Bentham das Konzept eines Gefängnisses, in dem die Gefängniswärter die Gefangenen stets beobachten können, ohne dass diese wissen, ob und wann sie beobachtet werden. Weil sie davon ausgehen müssten, dass sie stets unter Beobachtung stünden, würden sich die Gefangenen gesittet verhalten. Bentham glaubte, eine solche Gefängnisarchitektur zwinge die Häftlinge bei minimalem Aufwand für die Gesellschaft zu Wohlverhalten und sei somit eine „neue Methode zur Beherrschung des Geistes durch den Geist“.

Mir geht es jedoch nicht in erster Linie um die Erosion der Privatsphäre, die zweifellos ein grundlegendes Problem unserer Zeit ist, und auch nicht um den Datenschutz oder die Gefahren der Massenüberwachung, die Erosion des Datenschutzes oder den Trend zur Selbstentblößung. Sondern um die Bedeutung des Vergessens und des Erinnerns in unserer Gesellschaft und der gegenwärtigen Veränderung dieser Rollen.

Das Vergessen spielt eine zentrale Rolle für das menschliche Entscheidungsvermögen. Es ermöglicht uns, in der Gegenwart zu handeln, indem wir vergangene Ereignisse berücksichtigen, ohne uns aber von ihnen lähmen zu lassen. Durch ein vollkommenes Gedächtnis könnten wir die grundlegende menschliche Fähigkeit einbüßen, in der Gegenwart zu leben und zu handeln.

Jorge Luis Borges hat diesen Gedanken in seiner Kurzgeschichte „Das unerbittliche Gedächtnis“ ausgeführt: Ein junger Mann namens Funes verliert durch einen Reitunfall seine Fähigkeit zum Vergessen. Wie besessen hat er sich einen immensen Schatz an literarischen Klassikern angelesen, aber er ist nicht imstande, den Sinn hinter den Wörtern zu erfassen. Sobald wir ein vollkommenes Gedächtnis haben, so deutet Borges an, können wir nicht mehr generalisieren und abstrahieren und verlieren uns folglich in den Details unserer Vergangenheit.

Was Borges nur annahm, wissen wir heute genauer. Kürzlich haben Forscher den Fall der 41-jährigen Kalifornierin A. J. veröffentlicht, die biologisch kaum vergessen kann. Sie erinnert sich praktisch an jeden Tag seit ihrem elften Lebensjahr, und zwar an eine ungeheure, quälende Vielzahl von Einzelheiten. Sie weiß noch genau, was sie vor drei Jahrzehnten zum Frühstück gegessen hat; sie erinnert sich daran, wer sie wann angerufen hat und was in jeder einzelnen Folge der Fernsehserien passiert ist, die sie in den 80er Jahren gesehen hat. Sie muss nicht angestrengt darüber nachdenken: Das Erinnern fällt ihr leicht; es läuft „ungesteuert und automatisch“ ab wie ein Film, „der nie aufhört“. Nicht als besondere Begabung erlebt A. J. ihr Gedächtnis, sondern als Bürde, die sie immer wieder daran hindert, Entscheidungen zu treffen und mit Dingen abzuschließen.

Wie es aussieht, würden Menschen, die außergewöhnlich viel von dem abspeichern und erinnern, was sie erleben, empfinden und denken, ihr Erinnerungsvermögen nur zu gerne abschalten – zumindest zeitweise. Sie fühlen sich durch ihre ständig gegenwärtige Vergangenheit gefesselt, und zwar so sehr, dass ihr Alltag darunter leidet, ihre Entschlusskraft beeinträchtigt ist und sie nur schwer enge Beziehungen zu Menschen aufbauen können, deren Gedächtnis schlechter ist. Solche Effekte könnten noch stärker ausfallen, wenn sie durch ein nahezu allumfassendes und leicht zugängliches externes digitales Gedächtnis bewirkt werden.

Ein allzu gründliches digitales Gedächtnis kann, selbst wenn es eigentlich als Entscheidungshilfe gedacht ist, dazu führen, dass wir uns in Erinnerungen verlieren, die Vergangenheit nicht loslassen können und ganz wie Borges’ Funes die Fähigkeit zum abstrakten Denken einbüßen. Dies ist der vielleicht verblüffende Fluch der Erinnerung.

Vergessen ist nicht nur eine individuelle Tätigkeit; auch als Gesellschaft vergessen wir. Oft eröffnet dieses gesellschaftliche Vergessen Menschen die Chance zum Neubeginn. Wir akzeptieren, dass Menschen neue Beziehungen eingehen, wenn die alten sie nicht glücklich gemacht haben. Im Geschäftsleben werden Insolvenzen vergessen, wenn genug Zeit ins Land zieht. Manchmal können sogar Verurteilungen aus den Strafregistern nach Ablauf einer bestimmten Anzahl von Jahren getilgt werden. Durch solche und ähnliche Mechanismen gemeinschaftlichen Vergessens gesteht unsere Gesellschaft Menschen zu, dass sie wachsen können: dass sie imstande sind, aus vergangenen Erfahrungen zu lernen und ihr Verhalten zu ändern.

Trotz der immensen Bedeutung des Vergessens für die Menschheit hat die monumentale Verschiebung vom Vergessen zum Erinnern, die wir im digitalen Zeitalter erleben, bislang nur wenig Aufmerksamkeit erfahren. Im Jahr 1998 schrieb J. D. Lasica im Online-Magazin „Salon“ einen bemerkenswerten Artikel unter der Überschrift „The Net Never Forgets“ (Das Netz vergisst nie), in dem er zu dem Schluss kam, dass „unsere Vorgeschichten geradezu in unsere digitalen Häute eintätowiert werden“. Der Wechsel vom Vergessen zum Erinnern ist gewaltig, und wenn wir uns nicht darum kümmern, kann er sowohl für uns als Individuen als auch für die ganze Gesellschaft schwerwiegende Konsequenzen nach sich ziehen.

Eine solche Zukunft ist jedoch nicht unausweichlich. Es ist nicht die Technik, die uns zum Erinnern zwingt. Die Technik erleichtert den Niedergang des Vergessens – aber nur, wenn wir Menschen es so wollen. In Wirklichkeit sind wir es, die das Vergessen erschwert haben, und es liegt an uns, dies zu verändern.

Als Menschen gehen wir nicht unwissend durch die Zeit. Durch unser Erinnerungsvermögen können wir Vergleiche anstellen, lernen und Zeit als Veränderung wahrnehmen. Ebenso wichtig ist unsere Fähigkeit zu vergessen; sie lässt uns die Ketten der Vergangenheit abstreifen und in der Gegenwart leben. Jahrtausendelang war die Beziehung zwischen Erinnern und Vergessen klar. Sich etwas zu merken war schwierig und kostspielig, und die Menschen mussten genau überlegen, was diesen Aufwand tatsächlich wert war. Das Vergessen war der Normalfall.

Im digitalen Zeitalter hat sich dieses Verhältnis von Erinnern und Vergessen umgekehrt – vielleicht ist diese Umkehrung die fundamentalste Veränderung seit Menschengedenken. Informationen mithilfe des digitalen Gedächtnisses in Erinnerung zu behalten, ist zur Regel geworden und das Vergessen zur Ausnahme.

Die Digitalisierung hat die Speicherpreise einbrechen lassen, den Zugriff auf Informationen erleichtert und uns weltweit Zugang zu digitalen Speichern verschafft. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit wurde das Erinnern billiger als das Vergessen – eine Verkehrung der ursprünglichen Verhältnisse. Der Grund ist leicht zu erkennen: Würden wir uns angesichts der Fehlerhaftigkeit des menschlichen Gedächtnisses nicht alle für perfekte Erinnerungen entscheiden, wenn wir die Wahl hätten? Würden wir unsere Gedanken und Eindrücke im Schatten menschlichen Vergessens und menschlicher Vergänglichkeit nicht für die Nachwelt aufbewahren wollen?

Und so finden wir uns in einer „schönen neuen Welt“ des allumfassenden digitalen Gedächtnisses wieder, in dem Informationsverarbeiter wie Google der Welt Zugang zu Abermilliarden von Informationspartikeln verschaffen, von Fotos und Blogbeiträgen bis zu ausführlichen Marketinginformationen und detailreichen Satellitenaufnahmen von unseren Häusern und Gärten (und den Häusern und Gärten unserer Nachbarn).

Dieser Trend sollte uns aus zwei Gründen Sorge bereiten: Erstens überträgt er Macht von den Überwachten auf die Überwacher, wie Datenschutzexperten überzeugend dargelegt haben – und diese Wirkung besteht auch über die Zeit hinweg. Da das digitale Gedächtnis eine umfassende Rekonstruktion unserer Worte und Taten möglich macht, selbst wenn sie lange vergangen sind, entsteht nun eine nicht nur räumliche, sondern auch zeitliche Variante von Benthams Panopticon, die unsere Bereitschaft zur freien Meinungsäußerung und zum gesellschaftlichen Engagement beeinträchtigt. Möchten wir wirklich in einer Gesellschaft der Unterwürfigen und Furchtsamen leben?

Zweitens erfüllt das Vergessen eine wichtige Funktion bei menschlichen Entscheidungsprozessen. Es befähigt uns, zu verallgemeinern und von konkreten Erfahrungen zu abstrahieren. Es ermöglicht uns zu akzeptieren, dass der Mensch – wie alles im Leben – sich mit der Zeit verändert. Es verankert uns in der Gegenwart und befreit uns von der permanenten Fesselung an eine immer unbedeutender werdende Vergangenheit. Das Vergessen erlaubt uns als Gesellschaft, Einzelnen zu vergeben und für den Wandel offen zu bleiben. Das digitale Erinnern untergräbt diese Wirkung des Vergessens und gefährdet so unsere individuelle wie gesellschaftliche Fähigkeit zu lernen, vernünftig zu urteilen und rechtzeitig zu handeln. Und es macht uns anfällig für eine möglicherweise verheerende Überreaktion in Form völliger Nichtbeachtung unserer Vergangenheit.

Wir müssen auf die Probleme, die das digitale Erinnern aufwirft, reagieren – und ich glaube, dass uns das durch das Wiedereinführen des Vergessens gelingen kann. Ich plädiere nicht für eine ignorante Zukunft, sondern für eine, die anerkennt, dass wir Menschen uns mit der Zeit verändern, unsere Vorstellungen weiterentwickeln und unsere Standpunkte modifizieren. Wir können dem Schatten des permanenten digitalen Erinnerns entgehen, vor allem durch die Wiedereinführung des Vergessens im digitalen Zeitalter mithilfe von Verfallsdaten für Informationen. Ziel ist es, vom unbegrenzten Speichern von Information zu einem nachhaltigen, gewollten Löschen zu gelangen.

Verfallsdaten sind maßvolle Lösungen, die sich vergleichsweise leicht realisieren lassen. Dennoch könnten sie ausreichen, den Zwang zur Erinnerung aufzuheben und unsere für das Menschsein so zentrale Fähigkeit zu vergessen wiederherzustellen.

Am wichtigsten ist mir aber, dass wir in eine breit angelegte, offene und intensive Diskussion über die Wichtigkeit des Vergessens eintreten. Wir müssen darüber sprechen, wie wir uns gerade im digitalen Zeitalter an seine immense Bedeutung erinnern.

Der Autor lehrte zehn Jahre an der Harvard University und ist heute Professor für Internet Governance am Oxford Internet Institute. Der Text ist ein Auszug aus seinem Buch „Delete. Die Tugend des Vergessens in digitalen Zeiten“, das gerade bei der Berlin University Press erschienen ist (264 S., 24,90 €).

Viktor Mayer-Schönberger

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