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Ein SPRUCH: Heiliger Streit

In der – überschaubaren – staatsrechtlichen Literatur der DDR machte man sich lustig über das bundesdeutsche Instrument der Verfassungsbeschwerde. So also sieht kapitalistischer Jedermann- Rechtsschutz gegen die „öffentliche Gewalt“ aus: 98 Prozent aller Beschwerden scheitern.

In der – überschaubaren – staatsrechtlichen Literatur der DDR machte man sich lustig über das bundesdeutsche Instrument der Verfassungsbeschwerde. So also sieht kapitalistischer Jedermann- Rechtsschutz gegen die „öffentliche Gewalt“ aus: 98 Prozent aller Beschwerden scheitern. Ein Witz. Tatsächlich lieferten und liefern die verbliebenen zwei Prozent die maßgebliche Bestimmung, was Grundrechte bedeuten. Menschenwürde, Gleichheit, Eigentum, Religion – das Zusammenwirken von Beschwerdeführern und ihren Richtern in Karlsruhe sichert Rechtsstaat und Demokratie. Es geht eben um Inhalte, nicht um Statistik.

Trotzdem, die Hürden sind hoch. Die Richter sagen, die angegriffene staatliche Maßnahme müsse den Einzelnen „selbst, gegenwärtig und unmittelbar“ betreffen. Vom Euro-Rettungsschirm derart betroffen fühlt sich auch die Gruppe älterer Herren, über deren Beschwerde das Verfassungsgericht an diesem Mittwoch urteilt.

Es liegt auf der Hand, die Euro-Rettung betrifft selbst, gegenwärtig und unmittelbar vor allem das Parlament und sein Budgetrecht. Deshalb gehen die Kläger einen kleinen Umweg und behaupten, ihr Wahlrecht sei verletzt, weil die Bürgschaften die Haushaltsautonomie gefährdeten, und ihr Recht auf Eigentum, weil sie die Euro-Kaufkraft infrage stellten. Doch sind sie letztlich, wie jeder Bürger, nur sehr indirekt betroffen: als Bürger.

Wenn die Richter es nur wollten, sie könnten die Beschwerde mit leichter Hand als unzulässig abweisen und sie auf dem 98-Prozent-Aktenstapel landen lassen. Das Grundgesetz gewährt keinen allgemeinen Anspruch auf „richtige“ Entscheidungen des Parlaments und „richtige“ Politik. Dafür haben die Bürger die Wahl ihrer Vertreter, und wenn das nicht genügt, können sie sich auch selbst wählen lassen und um Mehrheiten werben. Das mühsame Geschäft der Demokratie, es erschöpft sich nicht im Klagen.

Aber wollen die Richter? Selten, dass sie – wie hier – mündlich verhandeln lassen, um dann auf Unzulässigkeit der Klage zu erkennen. Und das Gericht hat bereits gezeigt, wie man ein Betroffensein höchst mittelbar Betroffener konstruieren kann, bei der Verfassungsbeschwerde der Kirchen gegen die Sonntagsladenöffnung vor zwei Jahren. Es bleibt zweifelhaft, in welchem Recht Kirche und Gläubige verletzt sein sollen, wenn mit Beginn der heiligen Messe der Aldi um die Ecke aufschließt; auch das beste Sonderangebot hindert keine Andacht. Doch das Verfassungsgericht ließ die Klage zu, indem es dem Sonntagsschutz im Grundgesetz einen christlich-religiösen Gehalt zuschrieb.

Bei der Verhandlung vor zwei Monaten beriefen sich die Euro-Kläger auf dieses Urteil. Und hofften, den Richtern möge Demokratie so heilig sein wie Religion. Die Euro-Debatte ist ein Glaubensstreit. Auch vor dem Verfassungsgericht.

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