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Meinung: Einmal Patriot, immer Patriot

Von Pascale Hugues, Le Point

Seit zwei Wochen beobachte ich die beiden Fahnen, die auf meinem Balkon in Blumentöpfen stehen: schwarz-rot-gold und blau-weiß-rot. Dabei hatte diese stolze Demonstration der patriotischen Gleichberechtigung zunächst keinen leichten Stand gehabt: Nur wenige Stunden, nachdem wir sie feierlich gehisst hatten, wurde die französische Fahne von einer kleinen Brise davongetragen und landete auf dem Balkon der Nachbarn unter uns.

Deutschland blieb in seinem Büschel Vergissmeinnicht fest verwurzelt, doch eine unverschämte Taube verpasste ihm im Flug einen ordentlichen Klecks. Ein schlechtes Omen, zweifellos. Denn, das müssen Sie mir glauben, aus Fahnen kann man die Zukunft ebenso gut vorhersagen wie aus Kaffeesatz und Kristallkugel.

Nur wenige Tage später geschah es, dass zwei Wespen sich auf dem Blau der französischen Fahne leidenschaftlichen Liebesspielen hingaben. Die deutsche Flagge ließ sich nicht verführen, sondern wehte fleißig weiter in der Berliner Luft. Dann brach die große Liebe aus: Drei Tage lang drängten blau-weiß-rot und schwarz-rot-gold sich aneinander, sie umschlangen sich zärtlich, sie tanzten wieder auseinander, umarmten sich von neuem. Eine schöne binationale Symbiose, während Deutschland Argentinien schlug und Frankreich Brasilien alt aussehen ließ.

In der Befürchtung, ein Finale Frankreich - Deutschland könne diese Harmonie zerstören, habe ich die Turteltäubchen getrennt: Frankreich wurde neben das Olivenbäumchen gepflanzt und Deutschland neben den Rosenstrauch. Zwei Meter Abstand zwischen den beiden Halbfinalisten. Es war mir nicht entgangen, wie sie sich von der Seite gemustert und sich mörderische Blicke zugeworfen hatten. Sie waren zu Rivalen geworden.

Am frühen Dienstag dann begann alles schiefzugehen. Schon im Morgengrauen bemächtigte das Hoch Zorro sich der deutschen Fahne. Schlaff hing sie in der zunehmenden Hitze. Ein Kraftverlust, der Böses ahnen ließ. Einige Stunden später bestätigten sich meine Befürchtungen – 2:0 für Italien. Und als wir am späten Abend geschlagen und enttäuscht nach Hause kamen, hatte die deutsche Fahne kapituliert und sich zwischen zwei Terracotta-Töpfen zusammengeknüllt. Vermutlich hatte sie sich versteckt, um stumm zu leiden, wie die Tiere es tun. Die Trikolore dagegen stand aufrecht da. Um sie zu ermutigen, schmückte ich sie mit einer blau-weiß-roten Girlande.

Am Mittwochmorgen, am Tag der Begegnung zwischen Frankreich und Portugal, sah ich meinen jüngeren Sohn, wie er kerzengerade neben der Trikolore stand und mit der Hand auf dem Herzen halblaut die Marseillaise sang. „Man muss zum Himmel schauen“, befahl er und blickte ekstatisch in den schönen blauen Berliner Sommerhimmel. Manchmal frage ich mich, ob unsere Nachbarn uns vielleicht für gefährliche Nationalisten halten, für glühende Verehrer der Grande Nation, die sich mit Einbruch der Nacht seltsamen Riten hingeben. Die Marseillaise ist das Lieblingsschlaflied meiner Kinder. „Frère Jacques“ finden sie „völlig out“, und „Schlaf Kindlein, schlaf“ ist „was für Babys“. Sie bevorzugen den blutrünstigen Elan der französischen Nationalhymne: die grausamen Krieger, die erwürgten Söhne, das unreine Blut, das unsere Ackerfurchen tränkt. „Wenn du mit deinen Kindern abends in Deutschland ,Blühe, deutsches Vaterland’ singen würdest, würden die Nachbarn das Jugendamt holen“, warnte mich ein Freund.

Mittwoch, 17 Uhr: Trotz der drückenden Hitze bewegte die Trikolore sich noch. Ich fühlte ihre Kampfbereitschaft. Um Mitternacht habe ich sie dann ordentlich gebügelt und in meinen Koffer gepackt. Und sollte sie am Sonntag- abend nicht triumphierend in den Straßen von Aix-en-Provence flattern, dann nimmt sie am 14. Juli unverzüglich ihren Dienst wieder auf. Und hier mein Rat an all die neuen deutschen Patrioten: nur nicht wieder mit dem Klagen anfangen! Vergessen Sie die Gesundheitsreform, die Erhöhung der Mehrwertsteuer und die vielen kleinen Überraschungen, die Frau Merkel im Stillen zusammengebraut hat, während Sie am Fernseher geklebt haben. Behalten Sie Ihre gute Laune und packen Sie die schwarz-rot-goldene Fahne am 3. Oktober wieder aus.

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.

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