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Meinung: Einsperren ohne Prozess

George W. Bush bei Angela Merkel und der Streit um Guantanamo – was spricht für das Lager? / Von Eric Posner

Obwohl der Oberste Gerichtshof der USA die Militärtribunale in Guantanamo für illegal erklärt hat, steht es der US-Regierung weiterhin frei, feindliche Kombattanten dort unbegrenzt einzusperren. Die Regierung kann den Kongress auffordern, die Militärtribunale abzusegnen, dann wären sie wieder legal. Und auch wenn die Regierung diesen Schritt nicht vollzieht, ist sie laut Mehrheitsmeinung des Gerichts befugt, Al-Qaida-Mitglieder „für die Dauer der Kämpfe“ hinter Schloss und Riegel zu behalten. Die Gefangenen könnten nur nicht verurteilt werden, es sei denn von einem Militärgericht oder einem Zivilgericht. Das Urteil des Obersten Gerichts zwingt die Regierung also nicht, das Lager zu schließen.

Aber angesichts der Unpopularität einer solchen Position, den jüngsten Selbstmorden von Gefangenen, Berichten von misshandelten Gefangenen, des wachsenden internationalen Drucks, das Lager zu schließen – in dieser Woche ist George W. Bush bei Angela Merkel – und einer gulagähnlichen Wahrnehmung, ist es unwahrscheinlich, dass die Regierung an Guantanamo Bay festhalten kann. Bush hat selbst gesagt, dass er das Lager schließen möchte. Aber würde er damit nicht die Sicherheit des Landes gefährden? Sollte Guantanamo geschlossen werden, was würde aus den Internierten?

Kritiker argumentieren, dass die Vereinigten Staaten die Gefangenen freilassen sollten, wenn ihnen nicht vor einem Gericht nachgewiesen werden kann, dass sie ein Verbrechen begangen haben. Dieses Argument beruht auf dem Prinzip, dass Menschen nur bestraft werden sollen, wenn sie eine Straftat begangen haben.

Das emotionale Gewicht dieser Meinung ist nicht zu bestreiten, und die Bush-Regierung ist den Kritikern auf halbem Weg entgegengekommen: indem sie Militärtribunale geschaffen hat, vor denen einige der Gefangenen wegen Kriegsverbrechen angeklagt werden sollten – ohne ihnen den vollen Schutz zukommen zu lassen, wie ihn Angeklagte in einem ordentlichen Strafrechtsprozess genießen. Aber das Argument der Kritiker stützt sich auf eine Halbwahrheit, und wenn wir neu über den angeblichen Nutzen eines solchen Lagers nachdenken, sollten wir den komplizierten Sachverhalt im Kopf behalten, der sich dahinter verbirgt.

Internierung klingt wie eine Strafe, gilt aber juristisch nicht immer als eine. Die Gerichte unterscheiden zwischen Zivilinternierung/Ziviler Gewahrsam („civil detention“) und strafrechtlicher Einkerkerung („criminal incarceration“). Eine Person, die ein Verbrechen begangen hat, kann nach einem Strafprozess, bei dem ihm das volle Angebot des Rechtsstaats (Anwalt, Geschworene, ein unabhängiger Richter etc.) zur Verfügung gestanden hat, eingesperrt werden. Eine Person, die lediglich gefährlich ist, kann nicht strafrechtlich belangt werden, weil sie gefährlich ist; sie kann jedoch in Gewahrsam genommen werden, ohne dass ihr in jedem Fall jener weit reichende verfahrensrechtliche Schutz zugesprochen wird.

Dieses Prinzip kommt an vielen Stellen des Rechts zum Tragen. Geisteskranke, die eine Gefahr für sich und andere sind, können so lange in einer Anstalt festgehalten werden, wie sie eine Bedrohung darstellen.

Gefährliche Ausländer ohne Papiere können auch in Gewahrsam genommen werden. Ein Ausländer ohne Papiere, der ein schweres Verbrechen verübt, kommt vor ein Strafgericht, aber sobald er seine Strafe abgesessen hat, sollte er ausgewiesen werden. Nimmt ihn sein Heimatland nicht zurück, erlauben es die Einwanderungsgesetze der Regierung, ihn unbegrenzt in Gewahrsam zu nehmen.

Die Internierung von feindlichen Ausländern, vor allem Soldaten, in Kriegszeiten ist eine alteingeführte Praxis. Ausländische Feinde und Soldaten werden nicht in Gewahrsam genommen, weil sie Verbrechen begangen haben; sie werden interniert, weil von ihnen eine Gefahr ausgeht. Während des Zweiten Weltkriegs haben die USA hunderttausende feindliche Soldaten in Internierungslager auf amerikanischem Boden und anderswo eingesperrt. Weil es kein Verbrechen ist, ein feindlicher Soldat zu sein, erhielten diese Soldaten kein Gerichtsverfahren.

Die Bush-Regierung hat es nicht geschafft, ihre Alliierten und viele Amerikaner davon zu überzeugen, dass diese Regeln, die im Krieg gelten, auch für Al Qaida gelten – möglicherweise, weil der Krieg gegen ausländische Terroristen auf unklarer Basis steht und ohne absehbares Ende geführt wird.

Das hat dazu geführt, dass die Menschen weniger als in früheren Kriegen der Behauptung der Regierung Glauben schenken, dass jemand, der auf dem Schlachtfeld aufgegriffen wird, wo auch immer sich dieses befindet, weiterhin eine Bedrohung darstellt und weder ein Zivilist ist noch ein Soldat, der bereit ist, seine Waffen für immer niederzulegen.

Die Halbwahrheit, dass jemand nur für ein Verbrechen bestraft werden kann, muss in den größeren Zusammenhang gestellt werden, dass die US-Regierung gefährliche Ausländer in Gewahrsam nehmen darf, um die Öffentlichkeit zu schützen. Die Frage, ob Guantanamo geschlossen werden soll, ist gleichbedeutend mit der Frage, ob mutmaßliche Al-Qaida-Mitglieder so gefährlich sind wie Menschen, die durch eine Geisteskrankheit gewalttätig sind, wie feindliche Soldaten in Kriegszeiten, wie Ausländer ohne Papiere, die ein schweres Verbrechen begangen haben, wie rückfällige Gewalttäter und wie klassische Staatsfeinde.

Wenn ja, dann kann die US-Regierung, ohne die amerikanische Rechtstradition zu verletzen, mutmaßliche Al-Qaida-Mitglieder ohne den Schutz eines vollen Strafverfahrens einsperren. Ob das klug ist, hängt von dem Ausmaß der Bedrohung ab, von dem Umfang, in dem traditionelle Strafverfahren Sicherheitsmaßnahmen verhindern, vom moralischen Schaden, der entsteht, wenn die Regierung irrtümlicherweise harmlose Menschen in Gewahrsam nimmt, und von diplomatischen Zwängen, die von den Verbündeten ausgehen. Es hängt aber nicht ab von einem Verweis auf allgemeine Prinzipien.

Beitrag aus: The Wall Street Journal.

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