zum Hauptinhalt
Immer noch ist die Geburtenrate in Deutschland eine der niedrigsten der Welt - trotz hohen Summen in der Familienförderung.

© dpa

Familienpolitik: Eltern sind in der Erziehung Laien

Kinder sind von ihren Eltern abhängig. Deshalb sollte eine intelligente Familienpolitik nicht immer mehr Geld an Eltern verteilen, sondern Bildung und Erziehung besser fördern.

Das Bundesfamilien- und das Bundesfinanzministerium haben ein Gutachten zur Wirksamkeit der Ausgaben für die Familienpolitik in Auftrag gegeben, und erste Ergebnisse sind am Wochenende durchgesickert. Sie stellen die gesamte bisherige Linie der Familienfinanzierung in Frage. Obwohl die Gesamtsumme dessen, was hierzulande als „Familienförderung“ deklariert wird, bei 200 Milliarden Euro pro Jahr liegen, sind die erreichten Wirkungen bescheiden.

Die Gutachter, die vorrangig die ökonomischen Effekte untersuchen, kommen zu Schlussfolgerungen, die in der Bildungsforschung schon seit längerer Zeit bekannt sind. Nicht nur, wenn wir den Erfolg der Familienförderung danach beurteilen, was sich für die Volkswirtschaft am meisten rechnet, kommen wir zu enttäuschenden Resultaten. Das ist auch der Fall, wenn wir nach dem Effekt für die Förderung von Entwicklung und Bildung der Kinder fragen.

Wir geben soviel Geld für die vermeintliche Familienförderung aus wie kein anderes Land der Welt, aber es hat keine durchschlagende Wirkung für das Wohl der Kinder. Das Kindergeld bildet den größten Einzelposten, es wird flankiert von den alternativ wählbaren Kinderfreibeträgen, vom Kinderzuschlag, vom Elterngeld, von Steuererleichterungen bei überdurchschnittlich hohen Kosten der Kinderbetreuung,  Kinderzuschlägen bei der Riester-Rente, Ausbildungsfreibeträgen, von der Mitversicherung der Kinder in der Krankenversicherung, Beitragsreduktionen für Eltern bei der Pflegeversicherung und vielen anderen Programmen mehr. Sie haben alle das gleiche Strickmuster: Familien mit Kindern sollen finanzielle Erleichterungen erfahren. Die Familie als zentrale Institution der Kinderbetreuung und Kindererziehung soll gestärkt werden.  

Die Bildungsforschung zeigt aber schon seit Jahren, dass diese Ausrichtung der Familienpolitik den Kindern keine direkte Hilfe bietet.

Erstens, weil trotz der in Aussicht gestellten Gelder enttäuschend wenige Paare bereit sind, zu einer Familie zu werden, also ein Kind zu bekommen. Die Geburtenziffer ist bei uns bekanntlich so niedrig wie in kaum einem anderen reichen Land. Die Entscheidung für oder gegen ein Kind ist eben nicht nur eine Finanzfrage, sondern hängt von der gesamten Lebenssituation und der erlebten Unterstützung ab.

Zweitens, weil wir eine erschreckend hohe Zahl von Familien mit Kindern haben, die in relativer Armut leben, also trotz der Geldförderung nicht das materielle Lebensniveau erreichen, das bei uns durchschnittlicher Standard ist. Die jüngste Studie von Unicef spricht hier eine erschreckend klare Sprache. Eine finanzielle Gießkannenpolitik kann eben keinen gezielten Ausgleich für Benachteiligungen schaffen.

Und drittens, weil durch die Fixierung auf die Förderung von Familien als Haushalten nicht im Geringsten garantiert werden kann, dass die Geldsummen irgendwie den Kindern selbst, als sich noch in der Entwicklung befindlichen Persönlichkeiten, ankommen. Das „Kindergeld“ heißt zwar so, aber es ist eigentlich ein Familiengeld, das den Eltern und nicht den Kindern zur Verfügung steht. Im internationalen Vergleich fällt auf, wie stark bei uns die familiäre Herkunft eines Kindes auf seine sozialen und schulischen Entfaltungsmöglichkeiten durchschlägt. Hierfür ist die bisherige Ausrichtung der Familienpolitik mit verantwortlich.

Diese Erkenntnisse sind nicht neu. Die Regierung Schröder, die in ihrer ersten Legislaturperiode das Kindergeld kräftig erhöht hatte, korrigierte später diesen Kurs und nahm in ihrer Schlussphase entscheidende Weichenstellungen vor. Steuervergünstigungen etwa beim Eigenheimbau wurden zurückgenommen,  und bis auf den Kinderzuschlag für Eltern mit niedrigem Einkommen  und die Vorbereitung des Elterngeldes wurden demonstrativ keine Geldsummen mehr in die Familienförderung klassischer Form gelenkt. Stattdessen leitete die Regierung erhebliche Investitionen in den Ausbau von Kindertagesstätten und Ganztagsschulen. Das war ein klarer Kurswechsel von der Familienpolitik, die nur indirekt auch Kinderförderpolitik sein kann, zu einer direkten Kinderpolitik. Andere Länder, die diesen Weg schon früher einschlugen, haben damit sehr gute Erfolge erzielt, wie unser Nachbar  Frankreich  etwa, wo die Kinderzahl deutlich höher, die relativer Armut niedriger und die von der Herkunft unabhängige Förderung des Nachwuchses spürbar besser ist.

Klaus Hurrelmann ist Professor an der Hertie School of Governance in Berlin.

© promo

Die Regierung Merkel hat dieses Umsteuern zuerst mitgetragen. Der Ausbau der Vorschulerziehung wurde ebenso unterstützt wie der von Ganztagsschulen, beim „Bildungspaket“ wurden Ansätze einer gezielten Anreizpolitik zur Förderung der Bildung von Kindern sichtbar. Aber spätestens seit der Einführung des Betreuungsgeldes wird klar, dass sie diesen Kurs nicht durchhalten will oder kann.

Kinderpolitik heißt, programmatische und finanzielle Schritte einzuleiten, die unmittelbar den Kindern als jungen Staatsbürgern und als Persönlichkeiten mit besonderem Bedarf zu Gute kommen. Eine solche Politik ist nicht gegen Eltern und nicht gegen Familien gerichtet. Sie stellt die Rolle von Eltern als Dreh- und Angelpunkt für die Entwicklung des Nachwuchses überhaupt nicht in Frage. Aber die trägt aber der Tatsache Rechnung, dass Eltern Laienerzieher sind und ihre natürlichen Grenzen haben, wenn es um die Betreuung und Erziehung ihrer Kinder geht – weil sie berufstätig sein wollen oder müssen, ihre Beziehung in die Brüche geht, sie eigene Ansprüche an ein erfülltes Leben stellen und in vielen Belangen nicht kompetent bei der schwierig gewordenen Erziehung sind.

Wie systematische Befragungen von Kindern, etwa durch die World Vision Kinderstudien, zeigen, lieben die Kinder in Deutschland ihre Eltern, und sie sind sehr gerne in ihren Familien. Aber sie sind von ihren Eltern auch ganz direkt abhängig. Geht es Mutter und Vater gut, haben sie ausreichend Geld, sind gut ausgebildet und sozial integriert, dann blühen die Kinder auf. Geht es den Eltern schlecht, dann werden die Kinder benachteiligt. Sie entwickeln sich sozial nicht gut, werden schneller krank, verbringen ihre Freizeit mit unproduktiven und passiven Dingen und  haben keine schulischen Erfolge.

Hier setzt moderne Kinderpolitik an. Sie ist gezielte Förderpolitik für Kinder und eben nicht nur Finanzausgleich für den Elternhaushalt mit Kindern. Kinderpolitik und Familienpolitik gehören auf das Engste zusammen. Wir brauchen die materielle Basisabsicherung des Elternhaushaltes und zugleich die vorschulische Betreuung und Erziehung in Kinderkrippen und Kindertagesstätten und die Angebote von Kindergärten und Grundschulen auch am Nachmittag, weil sie die Förderimpulse der Eltern ergänzen. Je besser die öffentliche mit der privaten Erziehung abgestimmt ist, desto mehr profitieren die Kinder. Und es gibt nun einmal auch Kinder, die in ihren Familien nicht die Anregungen und Unterstützungen bekommen, die sie für ihre körperliche, psychische, sprachliche, emotionale und intellektuelle Entwicklung unbedingt benötigen. Für sie sind die öffentlichen Einrichtungen überlebenswichtig. Ohne sie fallen sie zurück und sind nicht in der Lage, den Anforderungen des gesellschaftlichen Lebens gerecht zu werden.

Gegen mehr Geld für Familien kann keiner etwas sagen. Wenn das aber auf Kosten der Angebote und Hilfen geht, die Kindern direkt zu Gute kommen, dann ist das gegenüber der jungen Generation nicht zu rechtfertigen, denn es ist sozial ungerecht und im Blick auf zukünftige Anforderungen in Bildung und Beruf kurzsichtig. Wollen wir die Ziele „höhere Kinderzahl“,  „weniger Armut für Kinder“ und „bessere Bildung für alle Kinder“ wirklich erreichen, helfen Kindergelderhöhungen  und schon gar ein neues Betreuungsgeld nicht weiter, sondern sie werfen uns womöglich sogar zurück. Das hat das neue Gutachten klar und deutlich belegt. Da die Bildungsforschung zu dem gleichen Ergebnis kommt, spricht alles dafür, fortan die finanziellen Ressourcen in den Ausbau der familienergänzenden öffentlichen Betreuungs- und Erziehungseinrichtungen zu lenken, um die Kinder stärker als bisher direkt zu unterstützen. Wenn sich das auch volkswirtschaftlich rechnet, umso besser.

Der Autor ist Professor an der Hertie School of Governance in Berlin.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false