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Essay: Daheim zu Hause

Wo kommen wir her, wo gehören wir hin: Renate Künast und Norbert Röttgen nähern sich dem Thema Heimat.

Der Begriff „Heimat“ wirkte lange Zeit, als sei er in zäh verteidigtem Besitz derer, die ihn sich in vordemokratischer Zeit angeeignet hatten, als man noch zum heimatfremden Element erklärt werden konnte. Nach dem 2. Weltkrieg wurde das Verhältnis zur Heimat nicht weniger verbissen. Millionen Vertriebene hatten ihre Heimat verloren und Millionen Menschen erkannten ihre zerbombten Städte nicht wieder. Kein Wunder, dass Freddy Quinns Schlager „Heimatlos“ einer der größten Hits der Nachkriegszeit wurde.

Heimatkitsch war eine Tünche, die manches verdeckte. Deutschland beschäftigte sich vor allem damit, seine Vergangenheit, die NS-Zeit und seine Mitschuld am Heimatverlust zu verdrängen. Auf kritische Fragen hieß es oft: „Geh doch rüber in den Osten, wenn es dir hier nicht passt.“ Es fiel schwer, sich für ein Heimatland zu erwärmen, aus dem man so schnell verbal abgeschoben werden konnte. Und eine Reise nach England brachte mir als 14-Jähriger das Erlebnis, als „German“ mit schlimmen Adjektiven bedacht zu werden. Es war schwer, Heimat zu empfinden, wo die Geschichte so bedrückend und die Türen der Aufarbeitung so fest verschlossen waren.

Andererseits begann in den 70er Jahren auch eine Wiederaneignung des Heimatbegriffs durch die Linke. Man drehte „kritische“ Heimatfilme wie „Jaider, der einsame Jäger“, in denen Bayerns Volksheld Jennerwein dargestellt wurde wie der Held eines Italowesterns. Man schrieb „kritische“ Heimatstücke wie Kroetz oder Sperr. Und Edgar Reitz setzte nicht nur dem Hunsrück mit seiner „Heimat“-Trilogie ein filmisches Denkmal. Wer Derartiges tat, leugnete ja bereits nicht mehr, dass Heimat ein großer Gefühlswert sei. Es wurde vielmehr versucht, die Heimat aus der Gefangenschaft der Tümelei zu befreien – erst kulturell, später dann handfest politisch. Legendär sind die Verbrüderungen zwischen stockkonservativen Bauern und linken Streitern im Wendland und am Kaiserstuhl geworden, wo man gemeinsam gegen die Wiederaufbereitungsanlage oder gegen das Atomkraftwerk Wyhl kämpfte und gleichzeitig die ländliche Kulturlandschaft genießen und schätzen lernte.

Lokale Geschichtswerkstätten folgten dem Motto „Grabe, wo du stehst“ und forschten nach dem Alltagsleben vergangener Generationen, das lange unter der Wahrnehmungsschwelle akademischer Historiografie geblieben war. Wer wusste, welche Menschen in welchen Häusern Hunger gelitten, Widerstand geleistet oder auch kluge Gedanken entwickelt hatten, der hatte einen anderen Blick auf seinen Heimatort. Zudem haben die Grünen und ihre Vorläufer in den westdeutschen Städten vielerorts dafür gesorgt, dass die alten Häuser, die Krieg und Nachkriegsplanung überlebt hatten, stehen geblieben sind. Grüne Basisarbeit war häufig Einsatz für den Erhalt des Typischen. Und siehe da, die „Heimat“ stahl sich ein, denn das Typische macht die Heimat aus.

Das deutsche Liedgut beschwört den Lindenbaum am Brunnen vor dem Tore als Chiffre der Heimat. Wer hat mehr als die Grünen dafür getan, dass solche Lindenbäume stehen bleiben durften? Unsere Ablehnung der industrialisierten Landwirtschaft und der Kampf für den Erhalt besonderer Nutztierrassen, Pflanzensorten und Landschaftsstrukturen – geht es uns da etwa nicht um Heimat? Unser Land ist führend in Umwelttechnologien, im Alltag trennen wir mit deutscher Gründlichkeit Müll und suchen das Kleingedruckte auf unseren Konsumgütern nach Schadstoffen ab. Umweltbewusstsein wird heute in der ganzen Welt als typisch für dieses Land angesehen. Man könnte sagen: Typisch deutsch ist typisch grün.

Doch das trifft es noch nicht. Unser neuer Heimatbegriff unterscheidet sich ganz entscheidend vom alten: Heimat ist nicht mehr nur, wo seit Jahrhunderten die ewig gleichen durch Blutsbande verbundenen Menschen an der Scholle kleben, sich umgeben, in einer Sprache sprechen. Das kann man lieben, aber ich nenne das eher einen erweiterten Familienbegriff. Heimat ist weit mehr als Familienbande. Heimat ist Gemeinschaft und die gibt es nicht unberührt von Geschichte und Verantwortung. Heimat ist eben nicht etwas a priori Gegebenes und Unveränderliches. Heimat ist streng genommen auch kein geografischer Ort, sondern eher ein inneres Gefühl des Aufgehobenseins und Gestaltenkönnens. Es hat deshalb viel mit Menschen, mit Begegnung und Einfluss zu tun. „Unsere Heimat ist der Mensch“ stellt Max Frisch lakonisch fest, Und deshalb ist „Heimat“ auch ein „Sehnsuchtsort“, ein Ort der erinnernden Fantasie, „etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war“ – so die eindrucksvolle Beschreibung von Ernst Bloch.

Bezogen auf die Politik heißt das: Unsere politische Heimat ist unsere Demokratie als der Ort, wo wir uns als Bürger begegnen. Heimat ist die Stadt oder das Dorf, wo ich mit anderen sichtbar verändern und gestalten kann. Heimat ist dort, wo ich selber Ursache bin – für das, was passiert, für den Weg, den wir gehen. Gut drei Jahrzehnte grüne Politik haben dieses Land verändert. Es ist in weiten Teilen weltoffener, pluralistischer, vielfältiger und demokratischer geworden. Und es stellt sich – zumindest in der großen Mehrheit – den nationalsozialistischen Verbrechen in der deutschen Geschichte. Unübersehbares Zeichen dafür ist das Mahnmal für die ermordeten Juden Europas im Zentrum Berlins.

Heimat kann und muss in Zeiten der Globalisierung, der Wanderung von Arbeitskräften, der Not von Flüchtlingen auch Wahlheimat sein. Für uns selbst, wie auch für Menschen, die aus den unterschiedlichsten Ecken der Welt mit den unterschiedlichsten Lebenskulturen hierher gekommen sind. Auch der türkische Restaurantbesitzer und die russische Lehrerin verändern und gestalten diesen Flecken Erde und machen für sich, für uns ein neues Stück Heimat daraus. Und die Heimat der anderen wird manchmal auch in Deutschland verteidigt, etwa wenn man gegen die Zerstörung des brasilianischen Regenwaldes kämpft oder gegen Wahlbetrug im Iran protestiert.

Es hat sich viel verändert in unserem Land seit jener Zeit, in der Heimat mir ein fremder Begriff und ein fremdes Gefühl war. Heute kann auch ich über mein Land sagen, was Brecht in seiner „Kinderhymne“ über unser Land schrieb: „Und das liebste mag’s uns scheinen / so wie andern Völkern ihrs.“

Heimat. Wir suchen noch“ – unter dieser Überschrift stand ein Kongress der Grünen-Bundestagsfraktion vor einigen Wochen. Der Titel macht zweierlei deutlich: Erstens haben die Grünen offensichtlich ihre Heimat noch nicht gefunden, zweitens scheinen sie aber eine deutliche Sehnsucht danach zu spüren. Beides überrascht nicht: Hervorgegangen aus unterschiedlichen Protestbewegungen, deren gemeinsame Basis eher die Ablehnung und die radikale Abkehr von Althergebrachtem, darunter auch von Bewährtem war, haben die Grünen naturgemäß mit dem Begriff „Heimat“ ihre Schwierigkeiten. Dass sie nun dennoch zu ihm zurückkehren, liegt wohl an der Erfahrung, die fast jeder früher oder später macht: Wer keine Heimat hat, ist einsam. Gerade in den Zeiten der Globalisierung, in denen Grenzen zunehmend verschwinden, die Anforderungen an die ständige Flexibilität und die beinah unbegrenzte Mobilität der Menschen wachsen und die Gefahr von Vereinsamung steigt, gerade in diesen Zeiten wird auch das Bedürfnis nach Heimat stärker. Diese Sehnsucht nach Heimat entspricht einem tiefen menschlichen Grundbedürfnis, sie ist eine anthropologische Konstante und als solche wohl fast allen Menschen zu eigen.

Unterschiedlich ist jedoch die individuelle Ausprägung. Sicherlich werden sich die meisten der Definition von Karl Jaspers anschließen können, demzufolge Heimat dort ist, „wo ich verstehe und wo ich verstanden werde“. Wo das jedoch konkret ist, diese Frage muss jeder Einzelne für sich beantworten, und für jeden Einzelnen wird die Antwort unterschiedlich ausfallen. Für den einen ist Heimat eine Stadt oder ein Dorf, für einen zweiten eine Region und für einen dritten ein ganzes Land. Wieder andere werden den Heimatbegriff gar nicht geografisch fassen, sondern ihre Heimat in Kultur, Sprache oder Religion sehen. Ich persönlich würde als Antwort auf die genannte Frage meine Familie, meinen Glauben und die Erinnerung an meine Kindheit nennen.

Der Umstand, dass Heimat individuell verschieden ist, bedeutet aber nicht, dass Heimat bedingungslos frei wählbar wäre. Sie ist geprägt durch die Herkunft, die familiäre Sozialisation und die regionale Prägung. All das ist nicht unumkehrbares Schicksal. Nicht alles, was man in seiner Kindheit erlebt, wird man als gut und richtig akzeptieren. Und nicht alle Werte, die man in Schule und Elternhaus vermittelt bekommen hat, wird man zur Richtschnur des eigenen Lebens erheben. Man kann seinem Herkunftsland den Rücken kehren und sich andernorts eine neue Heimat aufbauen. Aber einer solchen Entscheidung geht eine Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft voraus.

Weil aber die Heimat nicht bedingungslos frei gewählt werden kann, kann sie auch nicht perfekt sein. Sicherlich enthält das Wort „Heimat“ auch ein Moment der Idylle. Sie ist das Element, das dafür sorgt, dass wir uns in der Heimat „heimisch“ fühlen. Mit Heimatkitsch, den es natürlich auch immer gegeben hat und wohl auch immer geben wird, hat sie nichts zu tun. Sie ist jedoch auch nicht mit Perfektion gleichzusetzen.

Wäre es anders, könnte es auch kein Leiden an der Heimat geben, wie es sich nicht zuletzt bei Emigranten häufig beobachten lässt. Das gilt für so unterschiedliche Persönlichkeiten wie Alfred Döblin, Sebastian Haffner oder Hilde Domin, die vom NS-Regime verfolgt und vertrieben worden waren und die dennoch nach 1945 sogar in das Land zurückkehrten, das ihnen so schweres Unrecht zugefügt hatte. Die Verbundenheit dieser Menschen mit ihrer Heimat war offensichtlich zu stark, um von der Ablehnung der dort herrschenden Zustände vollständig verdrängt zu werden.

Das Wissen, dass Heimat nicht ideal sein kann, bedeutet jedoch keine Absage an die Möglichkeit, die Heimat zu gestalten. Vielmehr erwächst aus dem Zugehörigkeitsgefühl auch die Verantwortung für die Heimat, ihre mangelnde Perfektion sollte Aufforderung zu ihrer Verbesserung sein. Vorgelebt haben dies in beispielhafter Weise Politiker der „ersten Stunde“ der Bundesrepublik, unter denen sich viele befanden, die allen Grund gehabt hätten, Deutschland den Rücken zu kehren: Der KZ-Häftling Kurt Schumacher, der von den Nazis abgesetzte und zeitweilig inhaftierte Konrad Adenauer, der wegen seiner Beteiligung am 20. Juli zum Tode verurteilte erste Vorsitzende der CDU, Andreas Hermes, oder später der aus dem norwegischen Exil zurückgekehrte Willy Brandt – alle fühlten sich ihrer Heimat verpflichtet und trugen dazu bei, sie zu verbessern. Keiner von ihnen blendete aus, dass große Teile der Bevölkerung dieser Heimat noch kurz zuvor das „Dritte Reich“ mitgetragen hatte. Aber sie verfielen deshalb nicht in Fundamentalopposition, sondern sahen sich erst recht gefordert.

Politik, die ihre Verpflichtung aus dem Wunsch zur Gestaltung der Heimat gewinnt, muss sich immer der Vielschichtigkeit und des individuellen Charakters von Heimat bewusst sein. Wer, wie Renate Künast es auf dem Kongress hat anklingen lassen, sich nur dort zu Hause fühlt, wo er seine politischen Vorstellungen durchsetzen kann, negiert diesen pluralistischen Charakter von Heimat. Weil jeder Heimat für sich individuell definiert, ist eine Politik, die Heimat stärkt, eine Politik, die Freiheit ermöglicht. Kein Lebensentwurf ist besser als der andere, und keine Instanz hat das Recht, über die Lebensentwürfe anderer zu urteilen. Deshalb sollte sich die Politik darauf beschränken, den Rahmen zu schaffen, der ein gelingendes Leben nach individuellen Maßstäben möglich macht. Politik darf nicht so weit gehen, anderen Menschen die eigenen Vorstellungen eines richtigen Lebens aufzuzwingen. Der Ort, „wo ich verstehe und wo ich verstanden werde“, kann nur ein Ort sein, an dem ich mich auch um Verstehen und Verständnis bemühe. Wer sich nur dort beheimatet fühlt, wo seine eigenen politischen Vorstellungen durchgesetzt sind und alle Menschen sich diesen Vorstellungen beugen, verkennt ausgerechnet den freiheitlichen Charakter von Heimat. Gerade dieser Charakter aber macht die zeitlose Modernität des im Grunde genommenen konservativen Begriffs Heimat aus.

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