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Sieht viel aus, ist aber auch wenig. Frauen, Kinder, Gesellschaft, Deutschland: Wer ist da in der Mehr-, wer in der Minderheit? Schwer zu sagen.

© dpa

Essay: Die Mehrheit hat abgewirtschaftet

Die deutsche Gesellschaft hat sich ausdifferenziert, manchmal schrill und manchmal in aller Stille. Alle machen sich unangreifbar, indem sie ihr gutes Recht auf Leben geltend machen – und sich zur Minderheit erklären.

Der Gipfel ist erreicht, heißt es. Die Wohlstandsgesellschaft hat den Sozialstaat beerbt, wird uns gesagt. Und wir, die immer noch darüber nachdenken, was das alles zu bedeuten haben könnte, verlieren uns in den Paradoxien, die uns die Ereignisse zu bieten haben. Nichts kann uns mehr bestätigen als das, was uns frappiert, und ist das nun bereits eine Krise des Denkens oder bloß eine Frage der Vernunft?

Wessen Vernunft? Wenn das Fernseh-Frühstücks-Urgestein Cherno Jobatey mit der Neo-Salon-Bolschewistin Katja Kipping tanzt, ließe sich einwenden, dass nicht der Kongress tanzt. Auf ihn aber komme es an, stellen wir fest. Cherno Jobatey ist schließlich nicht Metternich und Katja Kipping nicht Königin Luise. Beide wären aber durchaus in der Lage, in diese Rollen zu schlüpfen, falls es angesichts des Publikums nötig sein sollte. Ist es aber nicht, denn welches Publikum, außer dem Tanzschulenpublikum, beherrscht heute noch den Walzer?

Im Zeitalter des „Follow me“ geht es zunächst einmal ganz allgemein um den Unterhaltungswert, der wiederum seinen Marktwert hat, was auch keiner mehr verschweigt. Es geht um die roten Haare der Kipping und die Turnschuhe des Jobatey, die er zum Anzug trägt. Im Grunde handelt es sich für die Öffentlichkeit um eine Ostdeutsche und einen Exoten. Das aber kann so schlicht nicht mehr gesagt werden. Und es trifft auch nicht mehr zu. Schließlich ist beides, das Exotentum des einen und das Rote der anderen mittlerweile ein Markenzeichen.

„Piloten, Klinikärzte, Lokführer“ – so lautet eine Zufallsschlagzeile dieser Tage. Darunter heißt es: „Minderheiten einer Belegschaft sind zuweilen mächtiger als die Mehrheit. Weil unersetzlich“, fügt die Zeitung hinzu, als wollte sie die Angelegenheit selbst banalisieren oder wenigstens irdisch erscheinen lassen. Dann aber stoße ich auf den folgenden Satz: „Apple sucht Lesben, Schwarze und Behinderte für den Aufsichtsrat“. Wen aber stört beim elitären Apple-Unternehmen der Tatbestand, dass in dem Führungsgremium nur weiße Männer sitzen? Einen Großinvestor! Einer, dem es ums Image geht. Er mag die Zeichen der Zeit erkannt haben, weiß er aber, was Apple ist? Oder meint er tatsächlich, das Unternehmen verkaufe Computer?

Richard Wagner lebt als Schriftsteller und freier Journalist in Berlin. Er veröffentlicht Erzählungen, Romane, Essays und Kritiken. Gemeinsam mit Thea Dorn erschien von ihm "Die deutsche Seele" (München 2011).
Richard Wagner lebt als Schriftsteller und freier Journalist in Berlin. Er veröffentlicht Erzählungen, Romane, Essays und Kritiken. Gemeinsam mit Thea Dorn erschien von ihm "Die deutsche Seele" (München 2011).

© Thilo Rückeis

Etwas hat sich geändert, und das Geänderte ist umgehend zur Selbstverständlichkeit geworden. Man wird heute eine Frau nicht als emanzipiert bezeichnen. Das wäre so, als würde man statt „cool“ jetzt wieder „dufte“ sagen. Bestenfalls würde man die Frau als selbstbewusst einordnen. Sie, darauf angesprochen, würde sich wohl kaum mit dem Begriff „emanzipiert“ identifizieren. Die realen Emanzen, wie ihre Gegner sie nannten, waren Schwarzer und Co. Was aber sind diese neben Leni Riefenstahl, Elisabeth Noelle-Neumann, Margret Boveri, Hanna Reitsch und Beate Uhse?

Die Frauen stellen, was die Volkszählungsergebnisse regelmäßig belegen, statistisch eine Mehrheit. Aber was sagt eine solche Zahl aus? Was ist eine solche statistische Mehrheit anderes als die Ausgeburt vom Dreiviertel-Kind pro Frau, wie man uns alle Jahre wieder weismachen will? Statistisch sind die Frauen die Mehrheit und haben eine längere Lebenserwartung, in den Debatten um Gleichstellungsfragen aber werden sie als Opfer der Diskriminierung eingestuft. Sie bilden sozusagen eine der wichtigsten neuen Minderheiten.

Jede soziologische Antwort auf diese Art Fragen dient nicht der Lösung des Problems, sondern der Begründung einer allgemeinen Stimmungslage. Selbst wer die Bundesrepublik als Gesellschaftsmodell grundsätzlich ablehnt, formuliert seine Ablehnung auf dem Niveau ihres Selbstverständnisses. Elisabeth Noelle-Neumann, die Diva der Demoskopie in Deutschland, war die ewige Grabrednerin jenes Machtgefüges, das auf das Verhältnis zwischen Mehrheit und Minderheit fixiert war. Ihre Zahlen machten Angst, obwohl sie angeblich für Zuversicht sorgen sollten. Man hatte die Mehrheit vor Augen und sich selbst darin platziert und so war man geneigt, vor der eigenen Geschichte und vor sich selbst zu warnen. Die Zahlen der Nachkriegszeit tragen Fußnoten mit Celan-Gedichten.

Der eingeschüchterte Mehrheits-Deutsche behielt das Parlament im Auge, und damit im Fokus der Betrachtung und der Deutung. In seiner Vorstellung sollte die jeweilige Regierung über eine solide Mehrheit verfügen. Aber auch eine große Koalition, die eine unerschütterliche Mehrheit gehabt hätte, war nicht erwünscht, weil sie der Tagespolitik einen zu geringen Spielraum bot, und die Opposition zur Untätigkeit verdammte, oder, noch schlimmer, auf parlamentarische Anfragen beschränkte und damit der Demokratie den Sinn entzog.

Das einschlägige Orakeln der Publizisten schien kein Ende zu nehmen. Sie wandten sich an den Mittelstand, der im totalitären Staat die Selbsttarnung gelernt hatte. Es war genau jener Mittelstand, den Noelle-Neumann mit ihrer Demoskopie zu entlarven wusste. Diese Leute, Überlebende der Katastrophe, blieben Teil der von ihr beschriebenen Schweigespirale. Sie lasen: William S. Schlamm, Die Grenzen des Wunders – ein Bericht über Deutschland (1959), Winfried Martini, Freiheit auf Abruf – die Lebenserwartung der Bundesrepublik (1960) und vor allem: Karl Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik? Tatsachen–Gefahren–Chancen (1965). Gleichzeitig fand aber, jenseits der Diagnosenschlacht, manchmal schrill und manchmal in aller Stille, eine Ausdifferenzierung der deutschen Gesellschaft statt. Man lernte, nicht alles, was kollektiv gefordert wurde, als politisch zu betrachten, und während die unaufhaltsame Modernisierung in Gang kam, begab man sich in immer neue Meinungs-Milieus und forderte zunächst einmal den Liberalismus heraus und nicht die Demokratie.

So kam es, dass die Toleranz zum Maßstab des politischen Handelns werden konnte. Ihm verdanken wir so manches. Es gibt heute den Froschweg unter der Autobahn und die gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft. Von den Tierschützern bis zu den Schwulen haben sich alle unangreifbar gemacht, indem sie ihr gutes Recht auf Leben und Ausleben geltend machten, und sich damit zur Minderheit erklärt haben.

Die deutsche Gesellschaft ist vor Ort zu besichtigen. Die Voraussetzung für alles, was politisch werden kann, ist im Vereinsleben vorgegeben, nicht zuletzt, weil im Verein für alles, was auf den Tisch kommt, eine Mehrheit zu finden ist, wenn es um einen Sachverhalt geht, auch wenn dieser darüber hinaus eine Minderheitenposition einnimmt. Wenn diese Position politisch werden will, muss sie bloß auf die Vereinsgrundlage zurückgreifen. Man ist abstimmungs-, entscheidungs-und handlungsfähig, und man ist nicht zuletzt empörungsbereit.

Die Vereinsbasis stellt sich zwar gerne der politischen Tätigkeit zur Verfügung, sie lässt aber nicht mit sich reden. Dass Parteien ohne die Vereine keine Chance hätten, ist ein offenes Geheimnis. Dabei geht es weder um die ideologische Ausrichtung noch um bestimmte politische Konzepte, sondern um die Anliegen des jeweiligen Vereins.

Die Vereinsmeierei ist immer schon das Basisgeschäft der Parteien gewesen. Wer heute an der Spitze einer Partei steht, wird nicht drum herum kommen, den Anstich beim Oktoberfest unter der Aufsicht der Fernsehkameras vorzunehmen. Dabei geht es mittlerweile nicht mehr darum, dass er dieses kann, sondern dass er es macht, und so den Vorwurf des Populismus riskiert.

Es ist letzten Endes ein Tag der Toleranz, wenn die durchaus amüsierten Blicke des Publikums den erfolgreichen Mann oder inzwischen auch die erfolgreiche Frau vor dem Fass treffen. Er ist gezwungen, das Fasszeremoniell zu erdulden, sie aber können ihn nicht aus dem Zelt jagen. Auch hier geht es nicht um die Mehrheit, sondern um die Folklore, der nicht beizukommen ist. Keine Minderheit der Welt könnte es sich leisten, das Oktoberfest abzuschaffen. Keine Mehrheit würde sich das trauen, und auch der Wiener Anstreicher wagte es bekanntlich nicht.

Die Wahrheit ist: Die Mehrheit hat wieder einmal abgewirtschaftet, und die Demokratie hat keinen guten Ruf. Das wird sichtbar in den verschiedenen sogenannten rechtspopulistischen Parteigründungen im Westen Europas, aber auch am Aufkommen plakativer Gesellschaftskritik von links. Es sind an beiden Rändern, rechts wie links, fluktuierende Gruppen, die ihre Empörung öffentlich zum Ausdruck bringen.

Trotz allem: Das digitale Zeitalter ändert nicht viel. Es beschleunigt und vereinfacht das Organisatorische, die Inhalte bleiben gleich. Es begünstigt kleine Gruppen, da es die Kommunikation billig macht. So kann der Protest nicht wie früher bereits an den Kosten scheitern.

Das Internet ist nicht das Kommunistische Manifest, es enthält dieses aber, und zwar neben Milliarden von anderen Dateien. Nur wer seinen Inhalt oder mindestens seinen Namen kennt, kann es aufrufen. Die Multiplikation im Netz ist wie die Mehrfachbilder von Andy Warhol. Jeder erkennt seine Marilyn und seinen Mao auf Anhieb, aber kaum einer hat Mao gelesen und es sind auch immer weniger Personen, die die Monroe-Filme gesehen haben. Mit dem Nachrücken der Generationen, jetzt, am Anfang unseres Jahrhunderts, entstehen Mehrheiten, die noch nie von Billy Wilder gehört haben. Die einschlägigen Fangemeinden schrumpfen. Nicht bloß die Community gibt auf, der ganze Kommunitarismus, der die Gesellschaftsdebatte der neunziger Jahre prägte, ist bereits archiviert.

So werden die meisten von uns unversehens zu Minderheitlern. Weil alles, was uns wichtig erscheint, nicht wie bisher infrage gestellt wurde, sondern einfach verschwindet. Es hilft gegen diese Art von Verschwinden auch keine Einrichtung einer Homepage. Diese ist das größte Missverständnis zwischen dem Netz und seinen Nutzern. Warum sollte einer diese Homepage unter Milliarden suchen? Er wird sie wohl gar nicht erst finden. Und doch: Die Wahrscheinlichkeit ist zwar gering, aber der Zufall könnte es mit sich bringen, dass jemand sich für diese Homepage interessiert.

Im Netz regiert damit eher der Zufall als die Wahrscheinlichkeit. Man ist dort ja Surfer und nicht Administrator. Jedenfalls ist die Zahl der Surfer weitaus größer als die Zahl der Administratoren. Wer aber ist unter diesen Umständen Minderheit und wer ist Mehrheit, und was sind die größten Netzerfolge: Ebay, Pornografie, Wikipedia, Youtube, Facebook und Google. Das sind Firmen, die genauso gut ohne Netz mit der traditionellen Kommunikationslogistik arbeiten könnten. Spätestens mit dem Versand von Waren ist man auf die herkömmliche Post und ihre Paketdienste angewiesen.

Ins Internet wird alles gekippt, was man mitteilen will. Der Nutzer ist vor seinem Bildschirm die meiste Zeit allein, und verbringt diese Zeit nicht damit, Wissenswertes zu suchen, nein, er sucht vor allem nach Gleichgesinnten. Dass dabei auch eine politische Partei gegründet wurde, die Piraten, ist eher die Ausnahme. Das meiste sind Swingerclubs, Oldtimerrallyes und ab und zu ein Flohzirkus.

Man strebt nicht mehr die Mehrheit an, man sammelt bloß die Anhängerschaft. Minderheiten sind intern kongruenter als die Mehrheiten. Hier kann jeder mit jedem Walzer tanzen, vorausgesetzt er kann es.

Richard Wagner

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