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Saubere Sache? Nicht immer. Wem ein Wasserbetrieb gehört, der muss auch im Dreck wühlen können.

© dpa

Essay: Die neue Lust an der Verstaatlichung

Vor der Finanzkrise galt der Markt als effizient, der Staat als zäh und verschwenderisch. Also wurde privatisiert. Nun schlägt das Pendel zurück. Wasser und Strom sollen rekommunalisiert werden, auch in Berlin. Ist das gut?

Anonyme Heuschreckenschwärme“, das war für Franz Müntefering die düstere Seite des Kapitalismus. Sie grasen Unternehmen ab, vernichten Arbeitsplätze und ziehen dann weiter, warnte der einstige SPD-Chef vor ein paar Jahren. „Gegen diese Form des Kapitalismus kämpfen wir“, verkündete er entschlossen.

Tempi passati. Das Gebaren der Heuschrecken, dieser vermeintlich skrupellosen Finanzinvestoren aus England oder Amerika, erregt heute kaum noch Aufsehen. Im Gegenteil, Berlins Senat ahmt sie sogar nach. Finanzsenator Ulrich Nußbaum soll im Auftrag von Klaus Wowereit die Anteile an den Berliner Wasserbetrieben vom französischen Veolia-Konzern zurückkaufen, für 590 Millionen Euro. Auf Pump – für den Kredit aufkommen sollen die Wasserbetriebe selbst. Sie müssen nun jedes Jahr mindestens so viel Gewinn machen, dass sie Zins und Tilgung abstottern können – über drei Jahrzehnte. Reicht der Überschuss nicht, müssen die Wasserbetriebe eben an ihre Substanz. Hauptsache, der Deal geht über die Bühne. Ein Plan wie aus dem Lehrbuch für Investmentbanker.

Das Vorhaben, die Wasserbetriebe wieder in den Besitz des Landes Berlin zu bringen, birgt eine bemerkenswerte Binnenspannung. Der Senat nutzt erzkapitalistische Instrumente, um den Einfluss des Kapitalismus in dieser Stadt zu schwächen. Er will die alleinige Kontrolle über die Wasserbetriebe zurückgewinnen. Ihn treibt die neue Lust an der Verstaatlichung: Der Markt gilt als anrüchig, Privatisierung als ein Schlagwort aus einer anderen Zeit. Die Macht über Unternehmen, die für das Gemeinwohl wichtig sind, gehört wieder in die Hände des Souveräns, der Bürger. Finden zumindest die Verfechter der Verstaatlichung.

Und das sind nicht wenige. Es geht nicht nur um die Berliner Wasserbetriebe. Auch das Stromnetz soll wieder in die Hand der Stadt, fordern Aktivisten. Sie haben erreicht, dass es dazu am 3. November einen Volksentscheid gibt. Für eine „unglaublich sinnvolle Investition“ hält etwa Kabarettist Horst Evers das Vorhaben. Hamburg stimmt über ein ähnliches Ansinnen bereits am 22. September ab. Dort soll der Staat neben Strom- und Gasnetz auch noch Fernwärmeleitungen übernehmen. Der Preis ist in beiden Fällen allerdings noch unklar.

Zuerst geht es aber um ein Gefühl, nicht um Geld. Seit der Pleite der Investmentbank Lehman Brothers an diesem Sonntag vor fünf Jahren hat der freie Markt mehr als nur ein Imageproblem. Nachdem nur ein paar tausend Banker unbehelligt von staatlicher Kontrolle Billionenverluste produzierten und die halbe Welt ins Unglück stürzten, fordert nicht einmal mehr die FDP einen Rückzug des Staates. „Privatisierung“ ist ein Wort mit gefährlichem Beiklang geworden, Marktskeptiker machen mit ihm Stimmung gegen das vermeintlich neoliberale Böse. Sie schwärmen für die ordnende Hand des Staates und erinnern, dass es die Politik war, die 2009 auf dem Höhepunkt der Rezession die deutsche Wirtschaft vor dem Sturz ins Bodenlose bewahrte.

Die Finanzkrise hat einen Wendepunkt markiert im Verhältnis von Markt und Staat. Unter den Regierungen Kohl und Schröder ging es noch darum, verschnarchten Staatsunternehmen durch einen Verkauf an Investoren Beine zu machen und zugleich die leeren öffentlichen Kassen zu füllen. Der Markt galt als effizient und elegant, der Staat als zäh, verschwenderisch und irgendwie gestrig.

Auch in Berlin, der Stadt, die im Ost- wie im Westteil über Jahrzehnte von der Staatswirtschaft geprägt wurde wie keine andere westliche Metropole. Bewag und Gasag wurden verkauft, und knapp die Hälfte der Wasserbetriebe – samt einer bequemen Gewinngarantie für die privaten Investoren, in guten wie in schlechten Zeiten.

Doch der erträumte Segen durch die Privatisierungen blieb in vielen Fällen aus. In Berlin stieg der Wasserpreis auf Rekordhöhe, der Versorger Vattenfall baute zehntausende Stellen ab. Auch andernorts entließen Stromfirmen Leute zu Tausenden, ebenso wie die Telekom, die Bahn, die Post, die Lufthansa oder ehemals öffentliche Krankenhäuser. Wer seinen Job behielt, hat heute oft mehr Stress, weniger auf dem Lohnzettel und keine Garantie, dass er auch im nächsten Monat noch beschäftigt sein wird. Die Post schloss Filialen und schraubte Briefkästen ab, Mieter vormals staatlicher Wohnungen beklagen steigende Mieten und schlechteren Service. Und bei der privatisierten Altersversorgung über Riester und Rürup fürchten viele, dass ihre Beiträge vor allem die Taschen der Versicherungsvertreter füllen, statt im Alter ein auskömmliches Leben zu garantieren.

Hat der Staat in einem Konzern das Sagen, läuft es aber nicht zwangsläufig besser. Von den vier großen Stromkonzernen hierzulande gehört nur Eon allein privaten Eigentümern. Bei allen anderen mischt die Politik mit – und doch steigen die Preise seit Jahren beinahe ohne Pause. Mit einer Landesbank hat nicht nur Berlin schlechte Erfahrungen gemacht. Auch Staatsbanker in Bayern, Sachsen, Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg zockten auf dem Finanzmarkt und hinterließen den Bürgern Milliardenlasten. Und die Deutsche Bahn, der letzte große Staatskonzern, produziert unablässig Skandale – vom Personalmangel in Stellwerken über Sparorgien bei der Berliner S-Bahn bis hin zur ewigen Unpünktlichkeit.

Hinzu kommt der Ruch von Filz und Vetternwirtschaft, der Firmen im öffentlichen Besitz seit jeher umfängt. Legion sind die Beispiele für Politiker, die von Parteifreunden mit einträglichen Pöstchen versorgt wurden. Und die sich hinterher eher um ihr eigenes Wohlergehen kümmerten als um das ihrer Kunden und Eigentümer.

Auf der anderen Seite gibt es viele Fälle, in denen der Markt gehalten hat, was seine Anhänger zuvor versprochen hatten. Seit dem Ende der Deutschen Bundespost kosten Telefongespräche nur noch den Bruchteil der Preise von einst – von der besseren Qualität und den Segnungen der mobilen Kommunikation zu schweigen. Seit nicht mehr allein die Bahn Fernbus-Verbindungen anbieten darf, sind bundesweit Dutzende neue Strecken zu attraktiven Preisen entstanden.

„Es ist nicht die Wohltätigkeit des Metzgers, des Brauers oder des Bäckers, die uns unser Abendessen erwarten lässt“, schrieb der englische Moralphilosoph Adam Smith 1776. „Sondern dass sie nach ihrem eigenen Vorteil trachten.“ Auf diese Weise entfalte die „unsichtbare Hand“ des Marktes ihre Kraft, zum Wohle aller. Auf Smith stützt sich die liberale Ordnungspolitik bis heute – und auf die Hoffnung, dass die Kräfte des Kapitalismus es schon richten werden. Bislang hat auch noch niemand eine gesellschaftliche Institution ersonnen, die dem Markt überlegen wäre. Wettbewerb sorgt für Innovationen, geht auf Kundenwünsche ein, steigert die Effizienz und senkt die Preise.

Meistens jedenfalls. Oft genug hat indes das Smithsche Ideal wenig mit der Wirklichkeit zu tun. Viele Märkte sind per se instabil, die Unternehmen trachten danach, den Wettbewerb auszuhebeln und sich in Monopolen einzurichten. Oder sie bilden Kartelle und beuten die Verbraucher aus.

In der Privatisierungseuphorie bis zur Finanzkrise wurden diese Gefahren oft ausgeblendet, der Verkauf geriet zum Selbstzweck. Selbst die Daseinsvorsorge, die bis dato als Domäne des Staates galt, kam nun in private Hände. Mancherorts hat das gut funktioniert, ist unternehmerisches Denken in einstige Beamtenapparate eingezogen. Oft ist das Vorhaben aber auch gescheitert – vor allem dann, wenn ein öffentliches Monopol schlicht durch ein privates ersetzt wurde. Tatsächlich kann man fragen, was etwa Wasserbetriebe in der Hand eines Privatunternehmens zu suchen haben. Seine Besitzer wollen Rendite sehen und Wachstum. Die Gefahr besteht, dass das Unternehmen Investitionen oder Sicherheit vernachlässigt, um eine Dividende zahlen zu können.

Bei der Frage nach Markt oder Staat geht es aber nicht nur um Geld und Qualität. Je mehr sich der Staat zurückzieht, desto eher riskiert er eine Debatte über seine Legitimation – zumindest in Europa, wo er sich nicht mit der Rolle des Nachtwächters begnügt. Je mehr Aufgaben das Gemeinwesen abgibt, desto weniger haben die Wähler zu entscheiden. Sie könnten überdies fragen, warum der Staat für die Erfüllung seiner Aufgaben hohe Steuern und Gebühren verlangt, seine Leistungen aber immer weiter ausdünnt.

Allerdings kann davon hierzulande nicht die Rede sein. In Berlin gehören dem Land noch immer 56 Unternehmen mit sieben Milliarden Euro Umsatz und 50 000 Beschäftigten. Deutschlands Staatsquote liegt bei 45 Prozent, das ist weniger als in den meisten großen europäischen Ländern. Selbst in Großbritannien, wo Margaret Thatcher in den 1980er Jahren die Privatisierungswelle ins Rollen brachte, fließt ein größerer Teil der Wirtschaftsleistung durch die öffentlichen Hände.

Trotzdem verlangen nicht wenige Bürger, der Staat möge sich nicht mehr zurücknehmen. Sondern wieder eine stärkere Rolle spielen, vor allem auf der Ebene von Städten und Gemeinden. Rekommunalisierung ist das Schlagwort, es geht meist um Verkauf und Erzeugung von Energie. Die Verfechter finden sich nicht nur im linken Lager – Baden-Württemberg kaufte noch unter CDU-Ministerpräsident Stefan Mappus für fast fünf Milliarden Euro Anteile am Stromkonzern EnBW von der französischen EdF zurück.

Seit 2007 wurden mehr als 70 neue Stadtwerke gegründet. Die Bürger finden das gut, auch in der Hauptstadt: Drei von vier Berlinern würden es bevorzugen, ihren Strom wieder vom Staat geliefert zu bekommen. Sie verlangen Transparenz und Mitbestimmung, wollen nicht mehr anonymen Managern ausgeliefert sein samt ihren wechselnden Launen und Strategien. Daher ist es gut möglich, dass das Volksbegehren für die Gründung eines Berliner Stadtwerks Erfolg haben wird. Eine „soziale, demokratische und ökologische Energieversorgung“ ist das Ziel, heißt es im Gesetzentwurf.

Womöglich versprechen die Initiatoren aber mehr, als sie halten können. Geld für den Aufbau eines Versorgers haben sie nicht, die Stadt ist mit 62 Milliarden Euro verschuldet und steckt in den Zwängen der Schuldenbremse. Investitionen, die in die Energie flössen, fehlten bei der Sanierung von Schulen und Straßen – das wäre eine bedenkliche Umverteilung. Zumal heute noch nicht absehbar ist, wie viel Geld in ein paar Jahren in die Netze gesteckt werden muss.

Nicht einmal die Energiewende voranbringen könnte ein Berliner Netz. Wer Kabel und Masten besitzt, darf längst nicht bestimmen, welche Energie durch die Leitungen fließt und was sie kostet. Die Gesetze sind klar: Ob Atom- oder Kohlestrom, alles muss durchgeleitet werden. Die Verbraucher haben ohnehin längst die Wahl zwischen knapp 400 Angeboten. Nicht zuletzt stöhnen Netzmanager beim Gedanken an ein noch stärker zersplittertes Leitungsgeflecht. 870 Verteilnetze gibt es bundesweit, mehr als in Frankreich, Italien und Spanien zusammen. Mit jedem weiteren steigt die Komplexität – und die Gefahr von Stromausfällen.

Freilich spielt in der Debatte auch das Geld eine Rolle. Warum, fragen Kämmerer, soll man gute Gewinne privaten Konzernen überlassen? Mit dieser Argumentation ließe sich aber auch fragen, warum allein Hoteliers am Touristenboom verdienen sollen oder allein Autobauer am Bedürfnis nach Mobilität. Mehr noch: Der Blick auf die Rendite ist entlarvend. Vor 20 Jahren schielten die Kritiker der Staatswirtschaft aufs Geld, ebenso tun es heute die Privatisierungsskeptiker.

In erster Linie geht es indes noch immer um Ideologie. Die Gefahr besteht, dass das Pendel heute zu weit in Richtung Kommunalisierung ausschlägt, ebenso wie es vor zehn oder zwanzig Jahren zu stark in die andere Richtung ausschlug. Es gibt allerdings einen Unterschied. Anders als damals gibt es heute eine starke Regulierung vor allem der Netze: Stromkabel, Wasserrohre, Telefonleitungen, Bahnschienen. Die Aufsichtsbehörden haben viel gelernt. Sie achten darauf, dass jeder einen fairen Zugang zum Netz bekommt, ob nun private oder öffentliche Eigner hinter ihm stehen. Und sie passen auf, dass sich kein Betreiber an seinen Netzen übermäßig bereichert. Das ist nicht nur gerecht, weil es um natürliche Monopole geht. Es zeigt auch, dass es am Ende vor allem um gute oder schlechte Angebote geht, ob vom Staat oder vom Markt.

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