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Europa: Wenn der Demokratie ihr Geist abhanden kommt

Griechenland, Italien, Ungarn, Deutschland: Etwas ist faul an der Demokratie in Europa. Funktioniert der Parlamentarismus noch? Viele Bürger haben längst resigniert.

"Merkel zufrieden – Tsipras muss sich beugen“, titelte unsere Zeitung am Dienstag vor einer Woche – es war, ausgerechnet, der 14. Juli, bei unseren französischen Nachbarn Revolutionsgedenktag – und drückte damit gleich zweierlei aus. Eine Ungeheuerlichkeit: Der Chef einer demokratisch gewählten Regierung „beugt“ sich, nicht dem Souverän, sondern einer anderen Regierung beziehungsweise mehreren. Und das Aufatmen der Gegenseite: Wir können zufrieden sein, der Störenfried ist nach ein paar Monaten Gezappel endlich zur Räson gebracht worden.

Volkssouveränität, ein Schlüsselwert des Westens

Und es wird immer ruhiger: Der gebeugte Tsipras jagt gerade ein von den „Institutionen“ verlangtes Gesetzespaket nach dem anderen durchs – ja, durchs Parlament. Vertretung jenes Volks, das Tsipras das Mandat für gänzlich Anderes gegeben und in einem Referendum bekräftigt hatte.

Die Beruhigung hat über die kurze, kleine Aufregung um das Ungeheure längst gesiegt. Dabei ließen sich auch jenseits von Griechenland genügend Zeichen entziffern, dass es die Volkssouveränität, ein westlicher Schlüsselwert, immer schwerer hat in der westlichen Wertegemeinschaft. Bei voller Einhaltung demokratischer Verfahren. In Italien regiert bereits die dritte Regierung, die nicht das Volk ins Amt gewählt, sondern der Staatspräsident berufen hat.

Große Dauerkoalition: Man gewöhnt sich, niemand empört sich

Und Europa freut sich über so viel Stabilität. Immer noch besser als Berlusconis nur ab und zu unterbrochenes Regime, der die Verfassung unter Dauerfeuer nahm und, wo er sie nicht offen angriff, ad absurdum führte: Ein Regierungschef, der zugleich der reichste Bürger war und über sein Medienimperium die Köpfe besetzen konnte. Auch in Ungarn ist dem demokratischen Buchstaben nach alles in Ordnung. Hat Viktor Orban ja das Mandat, Presse wie Kunst mundtot zu machen, doch ganz demokratisch bekommen.

Und hier in Deutschland: Die stabile Regierungskoalition, die nicht groß ist, sondern eine beunruhigende Neutralisierung der demokratischen Alternativen, beunruhigt in Wahrheit niemanden. Man hat sich gewöhnt an das, was eigentlich jede Woche angeprangert gehörte. Und diskutiert auch nicht, dass etwas faul sein muss im Staate, wenn eine Partei, die gerade 8,6 Prozent der Stimmen erhielt, die Linke nämlich, die größte Oppositionskraft ist. Oder dass knapp zehn Prozent der Bevölkerung nicht wählen dürfen, weil sie nicht eingebürgert sind. Und von denen, die dürfen, knapp ein Drittel nicht wählen ging, als 2013 ein neuer Bundestag bestimmt wurde.

Weniger Wahlbeteiligung - den Parteien nützt's

Selber schuld? Es ist wohl nicht Wurschtigkeit oder schlechtes Wetter, das die Leute abhält, sondern Resignation. Es sind – das ist inzwischen Kiez um Kiez erforscht – die Armen und Abgehängten, die den Weg ins Wahllokal scheuen. Die am dringendsten auf „good governance“ angewiesen wären, erheben ihre Stimme im Wortsinn nicht, weil sie nicht mehr glauben, dass sich gute Politik herbeiwählen lässt. Und zementieren so „bad governance“, will sagen, ein Regierungshandeln, das ihre Interessen nicht mehr auf dem Schirm hat.

Denn wer sich selbst aus dem Spiel nimmt, für den kann man sich Wahlversprechen – und nebenbei auch teuren Werbetinnef – sparen. Die Wahlenthaltung, die die Parteien offiziell laut beklagen, nützt ihnen objektiv. Der Kuchen an Macht, Parlamentssitzen und Ministerien wird schließlich nicht kleiner, nur weil weniger Leute wählen gehen.

Wer abweicht, wird lächerlich gemacht oder verteufelt

Beruhigen kann daher das – vorläufige – Ende des griechischen Dramas nur die Eliten, nicht „uns“, „we the people“, wie es in der US-Verfassung so pathetisch und wunderbar heißt. Es ist in repräsentativen Demokratien unvermeidlich, dass im konkreten Regierungsalltag, auch außenpolitisch, nicht Völker oder Gesellschaften kommunizieren, sondern Eliten. Problematisch wird’s, wenn die schon im Wahlakt ein überproportionales Gewicht erhalten, wenn alternatives Denken zur Kuriosität und die Köpfe dazu zu lächerlichen Figuren oder gefährlichen Systemgegnern werden. Das öffentliche Bild, das fünf Monate lang vom Athener Finanzminister gezeichnet wurde, warf nur ein besonders krasses Licht auf dieses für die Demokratie existenzielle Problem.

„Wahlen helfen nichts, sonst wären sie verboten.“ Griechenland könnte einen zu diesem alten, bösen Spruch bekehren. Gerade bürgerliche Bürgerinnen und Bürger sollten alles Interesse daran haben, dass er nicht noch mehr Freunde findet. Man muss kein Systemfeind sein, ganz im Gegenteil: Eine parlamentarische Demokratie ist wunderbar. Wenn nicht nur ihre Verfahren herrschen, sondern auch ihr Geist.

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