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Meinung: Europas naher, ferner Nachbar

Der Türkei fehlt heute noch viel an Reife für die EU – doch sie nutzt ihre Chance

Am 6. Dezember will die Europäische Kommission eine Empfehlung aussprechen, wie es mit der türkischen Bewerbung um eine EU-Mitgliedschaft weitergehen soll. Drei Tage später werden die EU-Außenminister beraten, weitere drei Tage danach müssen sich die Staats- und Regierungschefs der Union auf ihrem Gipfeltreffen im finnischen Tampere mit dem „was nun?“ befassen. Zu dem diplomatisch-politischen Störfall war es gestern gekommen, weil die Türkei sich weigert, Schiffe aus der Republik Zypern in ihre Häfen einlaufen zu lassen, solange nicht die Blockade des türkischen Nordteils der Insel aufgehoben wird.

Die Vorbehalte in der EU gegen eine Mitgliedschaft der Türkei sind massiv. Das Land sei einfach zu groß, durch seine islamische Tradition zu anders als der Rest Europas, heißt es. Vor allem aber sei es in seiner mentalen Grundstruktur weder der Demokratie noch den europäischen Freiheits- und Menschenrechtsidealen verbunden. Die Starrköpfigkeit Ankaras in der Zypernfrage spielt den Beitrittsgegnern in der EU in die Hände. Es fiele ja viel schwerer, eine sich erkennbar öffnende Türkei zurückzuweisen, als eine, die einem EU-Mitglied die volle staatliche Anerkennung verweigert.

An der Zuspitzung des Zypernkonfliktes sind die griechischen Zyprioten freilich nicht unschuldig. Sie wiesen einen Wiedervereinigungsplan der Vereinten Nationen zurück, während die Inseltürken ihn mit großer Mehrheit annahmen. Dennoch wäre es leichtfertig, die Probleme der Türkei klein zu reden. Sie sind ja aus unserer Sicht nicht zuletzt deshalb so groß geworden, weil Mitteleuropa immer wieder mit zuziehenden Türken aus den rückständigen Ostregionen des Landes konfrontiert wird – Menschen, denen hier alles fremd ist, die sich nicht verständigen können und die ihre ganze Kraft aus der völligen Bezogenheit auf ihre Religion und ihr Volkstum schöpfen. Aber diese Türken sind für ihr Land nicht repräsentativ, sind vor allem nicht repräsentativ für Zehntausende von Türken, die seit zwei Generationen hier leben, die oft die deutsche Staatsangehörigkeit haben und Deutschland als ihre Heimat empfinden möchten. Während der Fußball-WM haben wir es doch alle erlebt.

Noch stärker aber geht der Riss zwischen dem Gestern und dem Heute durch die Nation selbst. Der Ostteil der Türkei ist gerade im ländlichen Bereich zurückgeblieben, wirtschaftlich und zivilisatorisch. Der Westteil hingegen, mit den großen Städten, ist fast völlig europäisiert. Eine Abkoppelung des Landes von der EU können sich die Menschen dort überhaupt nicht vorstellen. Sie wissen genau, dass der Demokratisierungs- und Öffnungsprozess ohne den Druck aus Europa nie so weit gediehen wäre. Zur Erinnerung: Auch die Diktaturen in Spanien, Portugal und Griechenland fielen in sich zusammen, weil der Rest Europas den Geist der Freiheit dort massiv beförderte und unterstützte.

Noch ist die Türkei der Beleg dafür, dass sich Islam und Demokratie durchaus miteinander vereinbaren lassen. Das Land könnte so zum Modell mit hoher Strahlkraft in den Mittleren Osten werden – wenn Europa ihm eine Chance lässt.

Gerd Appenzeller

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