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Ein Vater hilft seiner Tochter über die ungarische Grenze beim Dorf Röszke. Ein Bild vom Sommer 2015.

© Csaba Segesvari/AFP

Familiennachzug: Weil Menschen keine Nummern sind

Flüchtlinge von ihren Familien fernzuhalten, ist unmenschlich. Aber auch politisch kurzsichtig. Der Fehler der letzten Regierung sollte jetzt korrigiert werden. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Andrea Dernbach

Wenn sich die Unionsspitzen an diesem Wochenende treffen, haben sie die Möglichkeit, sich auf die Korrektur eines Fehlers zu einigen. Seit Frühjahr 2016 können Flüchtlinge ihre Familien nicht mehr zu sich holen, wenn sie lediglich „subsidiären“, Schutz bekommen, also nur auf Zeit in Deutschland bleiben dürfen. Diesen minderen Status erhielten 2016 mehr als die Hälfte der syrischen Geflüchteten. Der Familiennachzug ist für sie bis März 2018 ausgesetzt; längst wird über ein Aus auf Dauer debattiert.

Menschenrechtswidrig nennen das Amnesty International und Flüchtlingshilfsorganisationen - auch weil es die Restfamilien, darunter viele Kinder, zur eigenen Flucht auf tödliche Wege zwingt. Die Kirchen erinnern die konservativen Schwestern CDU und CSU an den besonderen Schutz von Ehe und Familie, den nicht nur das Grundgesetz gebietet, sondern der ins konservative Erbgut eingeschrieben sein sollte. Weil er das, eigentlich, ist, war dieses Stück Asylpaket II ja auch in den christdemokratischen Reihen so umstritten.

Das moralische Argument zieht politisch kaum

Nun sind ethische Argumente in der Politik meist schwach, wenn Mächtiges auf dem Spiel steht, die Macht womöglich. Und wenn die Angst um sie in Panik übergeht. Sachsens Ministerpräsident, in dessen Land am 24. September die besonders radikalen Rechten die CDU auf einen bis dahin undenkbaren zweiten Platz verwiesen haben, hat seiner Partei als Konsequenz soeben allen Ernstes einen gründlichen Rechtsruck empfohlen . Als hätten Tillich und die Seinen dieses Rezept nicht stillschweigend schon Jahre zuvor probiert, indem sie rechte Umtriebe und Gewalt ignorierten, kleinredeten oder sogar rechtfertigten.

Vielleicht helfen im Fall des Familiennachzugs ja eher die praktischen Argumente als die moralischen und selbst die juristischen. Gegen die einen ist immer der Einwand des realitätsfernen Gutmenschentums zur Hand, gegen die andern die Hoffnung, man werde sich um Rechtsnormen schon herumschummeln können - siehe Abkommen mit Unrechtsstaaten zur Flüchtlingsabwehr.

Realitätsfern ist in Wirklichkeit die Logik, die hinter dem Aussetzen des Familiennachzugs steht. Sie macht Menschen aus Fleisch und Blut zu Zahlen. Weniger dürfen kommen gleich: weniger Kosten, weniger Integrationsmühen, weniger Ärger mit der rechtsradikalen Konkurrenz. Gerade an der Basis, in den Kommunen allerdings, um deren Entlastung es angeblich vor allem geht, weiß man es besser. Und selbst der Flüchtlingskoordinator der Bundesregierung und frühere Chef des Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Frank-Jürgen Weise, hat jüngst darauf hingewiesen: Menschen, die von ihren Liebsten getrennt sind oder sie sogar in Lebensgefahr wissen, können sich kaum integrieren.

Völkische Politik wäre ein Alptraum

Die sozialen Kosten könnten also eher steigen. Die Verwaltungsgerichte zahlen bereits einen Teil der Rechnung: Immer mehr Geflüchtete wehren sich mit Klagen gegen ihren eingeschränkten Schutzstatus - weil er sie auf Dauer von ihren Familien trennt. Dass viele (junge) Männer nach Deutschland flüchten, lässt sich mit den Bildern vom Sommer 2015 und an Silvester 2015/16 gut skandalisieren. Wenn es darum geht, Frauen nachziehen zu lassen, ist Schweigen.

Und die politische Konkurrenz der Union am rechten Rand? Der wird jedes Einschwenken auf sogenannte harte Linien nur Appetit auf Mehr machen. „Wie willst du rechts von denen ankommen?“ hat Sachsens einstiger „König Kurt“ Biedenkopf seinem Nachnachfolger im Ministerpräsidentenamt Tillich gerade zugerufen. Die richtige Frage, auf die die deprimierende Antwort nur lauten kann: Indem Deutschland eine völkisch eingefärbte Politik betreibt, wie sie andernorts in Europa bereits Regierungshandeln bestimmt. Das wäre ein Alptraum, mehr als 70 Jahre nach dem Untergang der NS-Diktatur. Und, wieder, praktisch unmöglich. In einem Land mit mehr als einem Fünftel migrantischer Bevölkerung können die Rezepte von Ungarns Orbán-Demokratur nicht funktionieren.

Negativ-Vorbild Anwerbestopp

Schon einmal hat die Bundesrepublik den Fehler gemacht, Ausländer als Nummern zu sehen: Der Anwerbestopp von 1973 sollte die Gastarbeitereinwanderung beenden. Und gab ihr stattdessen Schub, ironischerweise über den Familiennachzug: Menschen, für die die Grenzen nun dicht waren, konnten nicht mehr zu ihren Familien pendeln - und holten sie nach.

Vier Jahrzehnte später auch dieses Fenster zu verriegeln, ist nicht konsequent, sondern ein neuer alter Irrtum. Die Kanzlerin hat sich im Wahlkampf nicht darauf festlegen lassen, ihn zu wiederholen. Über den Familiennachzug werde man zu gegebener Zeit reden, sagte sie. Sie ist halt ziemlich angstfrei und rational. Ihre Parteifreunde werden womöglich weniger Nerven und Kopf haben.

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