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Meinung: Fiasko in der Elbmarsch

Leukämie in Krümmel: Wissenschaft und Politik haben versagt

Alexander S. Kekulé Am Anfang war die Angst. Auf dem Krümmel, einem idyllischen Hügelgelände am Elbufer, stand eine hoch moderne technische Anlage, die den Anwohnern unheimlich war. Betreiber und Politiker hatten versichert, es bestehe keinerlei Gefahr. Doch schon einen Monat nach der Inbetriebnahme geschah das angeblich Unmögliche: Das Areal flog in einer gewaltigen Explosion in die Luft. Das war im Jahr 1866 – Alfred Nobel hatte wieder einmal eine Nitroglycerinfabrik verloren.

Ein gutes Jahrhundert später verbreitete erneut ein Fortschrittssymbol Angst und Schrecken am Elbufer: Kurz nach der Inbetriebnahme des Kernkraftwerkes Krümmel (KKK) beobachteten Ärzte eine merkwürdige Häufung von Leukämien. Zwischen 1989 und 1996 erkrankten neun Kinder und ein junger Erwachsener – im Umkreis von fünf Kilometern um das KKK bestand damit die höchste Leukämierate der Welt. Atomkraftgegner forderten die sofortige Abschaltung aller Kernkraftwerke, die Betreiber bestritten jeden Zusammenhang. Die Landesregierung setzte daraufhin eine wissenschaftliche Kommission ein. Die Frage ist ebenso einfach wie politisch brisant: Verursachen Kernkraftwerke Leukämien?

Heute, 12 Jahre und viele Zwischenberichte später, steht nur eines fest: Politik und Wissenschaft haben kläglich versagt. Am Montag erklärten sechs der acht Mitglieder unter lautem Protest ihren Rücktritt, womit die Kommission faktisch aufgelöst ist – ohne abschließendes Ergebnis. Der Kieler Landesregierung werfen die Wissenschaftler „Verschleierungspolitik“ vor, weil sie die Arbeit der Kommission behindert habe.

Dabei sah es noch vor kurzem nach einem einhelligen Freispruch für die zivile Kernenergie aus. Bei Messungen rund um das KKK fand sich nur der „normale“ Fallout an radioaktiven Elementen, mit dem die Menschheit seit den überirdischen Atombombenexplosionen weltweit leben muss. Die gehäuften Leukämien mussten also eine andere Ursache haben, etwa Insektizide oder Holzschutzmittel.

Doch dann machte der Gießener Strahlenforscher Heinz-Werner Gabriel eine Entdeckung, die – sofern sie stimmt – den Stoff für einen Krimi à la John Le Carré liefern könnte: Auf Reetdächern und im Bodenstaub rund um den Krümmel fand Gabriel so genannte „PAC“-Kügelchen – etwa einen Millimeter große Partikel, die mit den radioaktiven Elementen Plutonium, Americium und Curium gefüllt sind. Die Partikel wurden in den 70er und 80er Jahren als möglicher Brennstoff für Kernkraftwerke hergestellt. Einige Wissenschaftler vermuten, dass PAC-Partikel auch für die Entwicklung von Mini-Atombomben erforscht wurden. Die strahlenden Partikel können jedoch nicht aus einem Kernkraftwerk, sondern nur aus einer Forschungsanlage stammen – wie kamen sie also in die Elbmarsch?

Die Leukämiekommission wurde schnell fündig: Nur wenige Kilometer neben dem KKK befindet sich das Forschungsgelände der GKSS (Gesellschaft zur Kernenergieverwertung in Schiffbau und Schifffahrt). Hier ging in den 50er Jahren der erste deutsche Kernreaktor zu Forschungszwecken in Betrieb. Die Kommission fand Hinweise auf einen mysteriösen Brand, der sich im September 1986 in einem Waldstück neben der GKSS ereignet haben soll. Damals sei erhöhte Radioaktivität gemessen worden, die Aufzeichnungen der örtlichen Feuerwehr seien auf merkwürdige Weise verschwunden. Hat die GKSS in den 80er Jahren also heimlich an PAC-Partikeln geforscht? Diese Spekulation der Kommission ging der Kieler Landesregierung zu weit. Auch die Staatsanwaltschaft stellte ihre Ermittlungen ein, nachdem sie in Gabriels Proben weder PAC-Partikel noch andere Hinweise auf ungewöhnliche Radioaktivität finden konnte. Die GKSS, die der renommierten Helmholtz-Gesellschaft angehört, bestreitet vehement, jemals mit PAC-Partikeln geforscht zu haben.

Wissenschaftliche Kommissionen müssen objektiv und neutral bleiben, ihre Arbeit kann nicht die der Staatsanwaltschaft ersetzen. Dass sich die Leukämiekommission aufgelöst hat, war deshalb richtig. Trotzdem muss die Aufklärung der Fälle in der Elbmarsch weitergehen, weil die Frage wissenschaftlich hoch brisant ist. Übrigens brachten schon die Proteste nach dem Nitroglycerin-Unfall auf dem Krümmel die Wissenschaft einen großen Schritt voran: Alfred Nobel erfand im Jahr darauf das wesentlich sicherere Dynamit.

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