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Auf engstem Raum. Im September 1945 öffnete die britische Armee das Flüchtlings-Auffanglager in Friedland.

© dpa

Einwanderung in Deutschland: Flüchtlinge brauchen einen Fluchtpunkt

Schon einmal wurden in Deutschland Millionen von Menschen integriert, die aus ihrer Heimat fliehen mussten. Was lehrt uns diese Erfahrung? Eine persönliche Erinnerung aus höchst aktuellem Anlass. Ein Gastbeitrag.

Der Strom der Flüchtlinge steigt Woche für Woche dramatisch an. Erst Hunderte, dann Tausende, schließlich Hunderttausende – pro Land. Gemeinden von 5000 Einwohnern verdoppeln sich in weniger als einem Jahr. Jeder zweite Einwohner ist ein Flüchtling. Die eingesessene Bevölkerung gerät in die Minderheit. Nicht gefühlt, sondern tatsächlich. Es werden keine Zeltdörfer gebaut, das dauert zu lange und ist zu teuer.

Die Flüchtlinge haben kaum mehr als ihre Kleidung am Leib und werden per Zwang in den Wohnungen und Häusern der Einheimischen einquartiert, Küche und sanitäre Anlagen werden geteilt. Wer über siebzig Jahre alt ist, für den ist das kein übertriebener Romanstoff, sondern eigene Erinnerung, ob als Aufnehmender oder als Flüchtling – wie für den Verfasser dieses Textes.

Die Unterschiede zum heutigen Status quo sind offensichtlich, historisch und hinsichtlich der Größenordnung. Es ziehen keine Landsleute zu, es wurde kein Krieg gemeinsam verloren. Aber auch: Es sind heute sehr viel weniger Flüchtlinge, die Belastung der Aufnehmenden ist mit der von damals überhaupt nicht zu vergleichen, so gering ist sie.

Und dennoch gibt es Lehren, die man aus der Zeit gewinnen kann, als auf dem Boden der Besatzungszonen innerhalb kürzester Zeit zwölf Millionen Flüchtlinge erfolgreich aufgenommen wurden. Auch damals fürchteten die Aufnehmenden um die Identität ihrer Heimat. Die Ankömmlinge, da half die gemeinsame deutsche Sprache nicht, wurden abwertend als „Polacken“ angesprochen. Auch wenn es Reibereien gab, Demonstrationen und Massenproteste jedenfalls waren fremd. Warum gelang es seinerzeit, das Zusammenleben überwiegend konfliktfrei zu gestalten?

Inzwischen hatte man Arbeit gefunden und sich „vorläufig endgültig“ eingerichtet

Beruhigend wirkte die vermeintliche oder tatsächliche Perspektive. Für die geflohenen Heimatvertriebenen war das zunächst die Aussicht auf Rückkehr in ihre angestammten Gebiete. Dies wurde in den ersten Nachkriegsjahren von allen politischen Parteien als Ziel vertreten. Die Betroffenen glaubten es, weil sie es glauben wollten. Das bedeutete für die Einheimischen, dass die Chance bestand, die Mitbewohner wieder loszuwerden. Allmählich dämmerte es auch den Gutgläubigsten, dass die Rückkehr eine Fata Morgana war. Inzwischen hatte man Arbeit gefunden und sich „vorläufig endgültig“ eingerichtet. Die Ansässigen sahen in den Zugewanderten Arbeitskräfte, die beim Aufbau von Wirtschaft und Gesellschaft anpackten. Zu Recht wird festgestellt, dass das „Wirtschaftswunder“ ohne die Tatkraft der Flüchtlinge vermutlich nicht zustande gekommen wäre.

So ist auch in der akuten Situation nach den Perspektiven zu fragen. Neben der möglichen, wenn auch in vielen Fällen eher unwahrscheinlichen Rückkehr in die Heimatländer kann die einende Verheißung für die Flüchtlinge nur die schnelle, reibungslose Eingliederung in den Arbeitsmarkt sein.

Das würde beiden Seiten dienen – den Flüchtlingen wie den Ansässigen. Die einen sähen eine Chance für sich, die anderen müssten begreifen, dass so der befürchtete Mangel an Arbeitskräften wenigstens zu einem kleinen Teil kompensiert werden kann. Wichtig ist, dass dies konkret und unverzüglich angegangen wird. Die Ankömmlinge müssen möglichst bald ihre Perspektive kennen und auf die Realisierung vorbereitet werden, was ihr Verbleiben oder aber die Rückkehr, das Erlernen der deutschen Sprache und den späteren möglichen Einsatz betrifft. Untätigkeit und Ungewissheit sind Gift für die Betroffenen. Asylverfahren müssen zügiger durchgeführt werden; Müßiggang führt zu gar nichts – außer zu Ärger und Enttäuschung bei allen.

Die politisch Verantwortlichen in der Nachkriegszeit steuerten bei der Bewältigung des Flüchtlingsproblems einen Kurs, der Konflikte nicht aufschaukelte, sondern sie zu lösen trachtete.

Daran aber mangelt es, wenn man an konkrete Fälle von lange geduldeten Slums etwa in Berlin-Kreuzberg denkt. Die um ihre Nachbarschaft besorgten Bürger sollten sich von Rechtsradikalen distanzieren und es denen nicht überlassen, sich an die Spitze der Demonstranten zu setzen. Ob sich unter den protestierenden Anrainern von aktuell geplanten Unterkünften für Asylbewerber auch frühere Flüchtlinge oder deren Nachkommen befinden, ist nicht bekannt. Den „Unterstützern“, die sich für Neuankömmlinge einsetzen, ist anzuraten, sich klar von ihren linksradikalen, zum Teil der autonomen Szene angehörenden Mitmarschierern zu distanzieren. Da sind nicht nur die „Anständigen“ unter sich.

Flüchtlinge sind eine Chance für die aufnehmende Gesellschaft. Sie brauchen einen Fluchtpunkt. Den müssen wir ihnen zeigen.

- Der Autor, 1935 in Ostpreußen geboren, hat die Nachkriegszeit als „Flüchtlingskind“ erlebt. Von 1986 bis 1989 war er Wissenschaftssenator von Berlin.

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