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Papst Franziskus bei einem Auftritt am Karfreitag.

© AFP

Franziskus und die Bürde des Amtes: Wofür nutzt der Papst sein Charisma?

Der neue Papst Franziskus predigt gegen die Selbstverherrlichung. Aber wie passt das zu seinem pompösen Amt? Die Geschichte zeigt: Auch Menschen mit Ausstrahlung können verkennen, wann Strukturen das Wesentliche überlagern.

Der Aufstand des alten Mannes verblüffte Vatikan-Experten. Zunächst hatte der Neugewählte den Trägern seiner Sänfte das Gehalt verdoppelt, weil sie jetzt mehr schleppen müssten; dann schaffte er das feudale Stück ab. Über Nacht berief er ein Konzil zur „Verheutigung“ der katholischen Kirche ein, was die Theologen irritierte, da Jahrzehnte zuvor das Erste Vaticanum die Macht des römischen Bischofs so monarchisch zugespitzt hatte, dass ein Mitwirken anderer Bischöfe fortan verzichtbar erschien. Die dreifache Krone, mit der auch sein irdisches Regiment symbolisiert wurde, versilberte er zugunsten der Armen. Dass er den Kirchenstaat, anders als seine Vorgänger, für Ausflüge in Hospitäler, Knäste und andere Kontinente verließ, verunsicherte seine Umgebung, noch mehr freilich sein Alterslimit für Bischöfe und Kardinäle. Als er den Pluralis majestatis aufgab, den Titel „Patriarch des Abendlandes“ ablegte und dem Gesandten einer getrennten Kirche den Fußkuß aufdrückte, ahnten Auguren brisante Folgen für sein universales Amt. Als er zurücktrat, meinten Besserwisser: Das sei schon bei der Sache mit der Sänfte absehbar gewesen ...

Wie wird ein Papst Kulturrevolutionär? Den eben erwähnten Turbo-Neuerer hat es so nie gegeben. Diese Aktionen fanden nicht Schlag auf Schlag, während eines einzigen Pontifikats statt, sondern zwischen 1958 und 2013 unter fünf Reformern, Übergangshirten oder Konservatoren: Sie hatten unterschiedlich lange Zeit, um Akzente zu setzen, Hoffnungen zu wecken, zu enttäuschen – zwischen 33 Tagen und 26 Jahren.

So viel Frist bleibt für Franziskus, die Projektionsfigur, nicht. Seit er frisch gekürt in der Loggia erschien, läuft die Einschätzungsmaschine. Bescheiden, bescheiden sei der Latino, heißt es unisono: Als sei diese Sekundärtugend eine Top-Qualifikation; als ließe sich umgekehrt an den roten Schuhen des Vorgängers Eitelkeit festmachen. Auf den Tisch hauen kann er, wird erleichtert kolportiert. Denn wer so wie er von Zärtlichkeit redet, der könne ja andernfalls ein Weichei sein. Bei seiner Amtseinführung suggerierte eine Radiomoderatorin: Statt der Adligen auf den Ehrenplätzen würde der hier wohl lieber Suppenküchengäste sehen! Leonardo Boff, der Befreiungstheologe, meint gar, dass Jorge Mario Bergoglios Prämisse („für die Armen“) ihn auch in Moralfragen, wo er als konservativ gilt, flexibel mache – während aus der Pius-Bruderschaft verlautet, dass man mit dem erwiesenen Homo-Ehen-Gegner stets prima ausgekommen sei. Und wer immer den Zockern und Bürokraten im Vatikan alles Schlechte wünscht, konstruiert sich aus dem päpstlichen Sponti eine Robin-Hood-Gestalt.

Tatsächlich spricht einiges dafür, dass ein spezielles Zusammenspiel von Amt und Charisma dieses Pontifikat bestimmen wird. Spannung zwischen beiden Polen gehört seit den Konflikten zwischen Petrus und Paulus, seit Einheits- und Vielfaltszoff in den ersten Gemeinden, zur Kirchengeschichte. Über 1500 Jahre halfen gerade neue Ordens-Aufbrüche der stagnierenden Institution, vitalisierende Antworten auf Fragen ihrer Gegenwart zu finden: monastische Modelle zur Zeit der Völkerwanderung, die gläubige „Modernität“ der Jesuiten am Beginn der pluralistischen Neuzeit, Sozialprojekte engagierter Kommunitäten während der Industrialisierung. Pontifex wurden die Ordensmänner selten. Wo Ordensgemeinschaften viele Pfarreistrukturen trugen, kam es zwischen jenen Priestern, die außer Gehorsam und Keuschheit noch die Armut gelobten, und ihren Bischofs- und Weltpriester-Kollegen auch zu Rivalitäten. Nun aber weckt der Jesuit mit den Idealen eines Bettelordens an der Weltkirchenspitze utopische Assoziationen: von einer Versöhnung zwischen Macht und Spiritualität.

Selbst charismatischen Pionieren gelingt es dabei nicht immer, zwischen beflügelnder Botschaft und institutionellem Unterbau zu unterscheiden. Die Legende von der Berufung des Francesco berichtet, der Kaufmannssohn habe vor einem Kruzifix in der kaputten Kapelle St. Damiano den Satz vernommen: „Bau mein Haus wieder auf, das, wie du siehst, völlig verfällt.“ Er versteht das konkret – und repariert zunächst die Ruine! Welche Strukturen wichtig sind, damit „das Eigentliche“ transportiert wird, wann Strukturen das Wesentliche überlagern, erkennen mitunter Charismaten so schwer wie Amtsträger. In dubio pro ecclesia? Heute muss sich Jorge Mario Bergoglio im Bezug auf die Jahre der argentinischen Militärjunta vorwerfen lassen, trotz verborgener Aktionen, die den Verfolgten zugutekamen, institutionskonform gegenüber dem Killerregime laviert zu haben.

Damals hat die Gratwanderung einer Gemeinschaft, unter deren Christen die Martyriumsbereitschaft unterschiedlich ausgeprägt ist, den Jesuitenprovinzial Bergoglio nicht unbeschädigt gelassen. Im Zweifel für das Opfer? Zerreißproben solcher Art kennt auf andere Weise sein Vorgänger Benedikt; nicht nur als Kurienkardinal bei der Bearbeitung von Missbrauchsfällen. Doch der früh zum Priester bestimmte Ratzinger ist in mehreren Seminaren anders, nämlich zum Einzelgänger, sozialisiert worden: Seine klerikalisierte Wahrnehmung behinderte ihn, wichtige Ziele des Zweiten Vatikanischen Konzils anzugehen, den Apparat so radikal wie nötig zu reformieren. Den Eisenbahnersohn und Chemielaboranten Bergoglio dagegen hat als „Spätberufenen“ seine Gemeinschaftserfahrung bei den Jesuiten geprägt. Inspiriert durch Lateinamerikas Basisrealität, mit der er vor Wochen noch konfrontiert war, bekam er ein Gespür für das, was zählt, was entbehrlich wäre.

Wie 2007 im Magazin „30 Giorni“ zu lesen war: Man ändere sich dadurch, dass man „im Herrn bleibe“ und „aus sich selbst herausgeht“, sagte damals der Erzbischof von Buenos Aires. Seine Priester ermuntere er, in Gegenden, die sie nicht erreichen, eine Garage zu mieten: „Und wenn ihr den einen oder anderen disponiblen Laien auftreiben könnt, dann lasst ihn nur machen! Er soll sich um diese Leute hier kümmern, ein bisschen Katechese machen, ja, auch die Kommunion spenden, wenn er darum gebeten wird.“ Einem Pfarrer, der unkte, die Leute kämen dann nicht zur Kirche, habe er geantwortet: „Na und? Kommen sie denn jetzt zur Messe?“ Aus sich selbst hinauszugehen bedeute, den „Garten seiner eigenen Überzeugungen“ zu verlassen, wenn sie „den Horizont verschließen, der Gott ist“. Priester klerikalisieren die Laien, wetterte Bergoglio vor sechs Jahren, „die Laien bitten uns, klerikalisiert zu werden … Wenn man bedenkt, dass allein die Taufe genügen könnte. Ich denke an die christlichen Gemeinschaften in Japan, die über 200 Jahre keinen Priester hatten. Als die Missionare zurückkehrten, fanden sie dort alle getauft vor, alle waren kirchlich verheiratet und alle Verstorbenen hatten ein katholisches Begräbnis bekommen.“ Der Glaube jener, die ihre Mission kraft der Taufe lebten und „mit Freude erfüllt hatten“, sei intakt geblieben.

Was machst du mit dem Amt, lieber Franziskus? Von der Idee, das Charisma könne die Kathedra Petri retten, handelt ein Fresko in Assisi, die hierarchische Gegensicht zur Szene von St. Damiano: Da träumt Innozenz III. anno 1209, wie ein Mann in brauner Kutte die Lateran-Basilika stützt, während das Gebäude auf ihn, den im Palast nebenan liegenden Kirchenfürsten, herabzukrachen droht. Der mit 37 Jahren gewählte Innozenz nannte sich Vicarius Christi (nicht mehr nur: Vicarius Petri), betrieb Kreuzzüge, Lehenspolitik, verdoppelte sein Staatsterrain, bereitete die Inquisition vor, integrierte aber auch häresieverdächtige Aufbruchsbewegungen. Das 13-köpfige Hippie-Häuflein von Minderbrüdern, deren Ordensregel er am Tag nach jenem Traum approbierte, wurde zur Keimzelle einer weitreichenden Rückorientierung auf das Evangelium. Ende des 13. Jahrhunderts besteigt dann den Petrus-Thron mit Nikolaus IV. erstmals für vier Jahre ein Franziskaner, der in Maria Maggiore begraben liegt: jener Basilika, die Papst Franziskus nach seiner Wahl zum Gebet besuchte. Das Gold an der Decke stammt hier (wie in der Jesuitenkirche Il Gesu) aus dem ersten Tribut der Konquistadoren.

Über Reformen, die mit eigener Vergangenheit mutig umgehen, hat seinerzeit Benedikt XVI. vielleicht etwas anders gedacht als sein Nachfolger. Gleichwohl verschaffen jetzt beide gemeinsam „ihrem“ Amt einen optimalen Startaufschlag. Der Von-Draußen-Hereinstürmer Karol Wojtyla hatte ab 1978 als Jungspund zunächst über die reformresistente Kurie hinwegregiert, bis er sich schwächelnd mit ihr arrangierte. Der Vatikan-Insider Ratzinger hatte seine Pappenheimer gekannt, war nur zu sehr geprägt durch das System, um es umzubauen. Durch den Rücktrittscoup bietet sich nun im Übergang – der delikatesten, komatösen Intrigen-Phase einer Wahlmonarchie – diese Riesenchance: Der neue Besen kommt „vom Ende der Welt“ (Bergoglio) und verfügt dennoch, durch den kooperierenden Vorgänger, über zentrale interne Details samt Krimi-Dossier.

Reformfantasien, wie sie dieser Tage vorgetragen werden, spiegeln neben den Problemen der Weltkirche immer auch Zeitströmungen. Um 1968 spotteten Religionskritiker: Paul VI. solle den Vatikan verkaufen und zur Stazione Termini umziehen, wo ihn jeder besuchen könne. Sozialromantiker heute wünschen sich einen Attac-Propheten. Meldungen über Bergoglios strikte Sexualmoral dämpfen die Liberalisierungserwartung in diesem Punkt. Gleichwohl sind viele Reform-Rufer hier auf Affirmation fixiert, nämlich ihre Kirche als Abbild der Gesellschaft und aller dort zu Recht tolerierten Lebensmodelle zu sehen – alternative Überraschungsoptionen gibt es nicht. Papst Franziskus wiederum, der Überraschungsoffene, steckt in dem Dilemma, Geschiedene oder Homosexuelle mit Güte zu behandeln, was seiner Haltung entspricht, ohne deren Konflikte mit kirchlichen Idealen wegwischen zu können: Bisher fehlt eine Theologie der Geschlechter, des Amtes und der spirituellen Dynamik zwischen Macht und Ohn-Macht, aus der heraus sich ekklesiale Rollenverteilung und Weihepraxis erklären oder fundiert verändern ließen.

Wo indes theologisch keine Hürde bestände – bei der Zulassung „bewährter Ehemänner“ (viri probati) zum Priesteramt, oder von Frauen zum Diakonat oder zu Leitungsämtern – sollten sich Tore öffnen. Auch zeigen erste Signale, dass Franziskus den hierarchisch-demokratischen Konzilsauftrag „Kollegialität“ verinnerlicht. Seine Bitte an die Menge vor St. Peter, ihn zu segnen, zitiert die antike Bischofswahl per Akklamation. Seine Entscheidung, für die Messe mit den Kardinälen in der ehrwürdigen Sixtina flugs einen „zum Volk gerichteten“ Altar aufzustellen, bricht mit dem Vorgänger. Benedikt gab gern dem „Gott“ zugewandten Altar der alten Messe den Vorzug. Franziskus wählt den Opfertisch des Gottes in der Mitte: Kirche sind Wir.

Benedikts Retrotrend entsprang der verständlichen Sorge, durch geistlos umgesetzte Liturgiereformen werde das Mysterium aus dem Gottesdienst wegbanalisiert. Franziskus begegnet diesem Verlust mit der sozialen Mystik der Selbstüberschreitung – er sagt: aus sich herausgehen – mit der Transzendenzsuche im Du. Das ist sein Impuls. Sein Feindbild ist die „Selbstverherrlichung“. Sein Mantra „Barmherzigkeit“ beschreibt die Qualität einer Liebe, die kein Kopfkonzept bleibt, sondern zu Fleisch und Blut wird, ja die Eingeweide umdreht, wie das im Hebräischen und Griechischen anklingt. Barmherzigkeit favorisiert die Armen; Gerechtigkeit macht die Kirche zum Zeichen der Einheit in der Welt. In prophetischen Lesungen zu Ostern und zu Pfingsten wird diese Auferstehungswandlung vertrockneter Skelette in lebende Menschen, steinerner Klumpen zu Herzen aus Fleisch, provozierend ausgemalt.

„Aus Barmherzigkeit erwählt“, lautet der Wappenspruch des Neuen: Seine Berufung erlebte der tangobegeisterte Chemielaborant seinerzeit, als er die Lesung vom Zöllner und Römer-Kollaborateur Matthäus hörte. „Folge mir!“, sagt Jesus zu dem Mann an der Schranke, und wird später, als er im Kreis vieler Sünder vespert, von anständigen Leuten beschimpft. Mit dem Blick der Barmherzigkeit und der Erwählung habe Jesus Matthäus angeschaut, kommentiert ein mittelalterlicher Mönch die Erzählung, das trifft Bergoglio. Liebe, die durchs Mark geht, in Verbindung mit dem Blick, der den Einzelnen wirklich meint, ist sein persönliches Credo offenbar über 55 Institutionsjahre geblieben. Das Evangelium skizziert die Antwort des unbedingt Gemeinten sehr knapp: „Er stand auf und folgte ihm.“ Auch ein Aufstand.

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