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Familienministerin Ursula von der Leyen beim Besuch einer Kindertagesstätte in Magdeburg.

© dpa

Kontrapunkt: Frau von der Leyens Durchschnittskind

Kontrapunkt - die neue Meinungskolumne bei Tagesspiegel.de. Heute schreibt Tissy Bruns über die Hartz-IV-Kindersätze und eine bemerkenswerte Erfindung der Arbeitsministerin.

Und vergessen Sie nicht unser Bildungspaket, heißt es heute von höchster Stelle, nämlich aus dem Mund der Bundeskanzlerin. "Beachtliche Steigerungsraten" sieht Angela Merkel trotz gleich bleibender Hartz-IV-Kindersätze, denn es gibt ja: "Unser Bildungspaket für Kinder mit einem Durchschnittswert von 20 Euro im Monat." Die Kanzlerin tritt damit ihrer Arbeitsministerin an die Seite, die - nach eigener Auskunft selbst überrascht davon, wie wenig in den unteren Einkommensgruppen für Kinder ausgegeben wird - die überraschende Nichtanhebung der Hartz-IV-Kindersätze mit dem Bildungspaket wettmachen will. Dieses Paket, für das 620 Millionen im Haushalt bereitstehen, enthielte Sachleistungen, die unter dem Strich für jedes Kind etwa 20 Euro mehr bedeuteten.

So jedenfalls wurde die Ministerin verstanden und aus den Äußerungen der Bundeskanzlerin dürfen wir schließen, dass sie auch so verstanden werden wollte. Angela Merkel allerdings ist wortwählerisch und weiß warum. Nicht "jedes Kind" darf sich auf die schwarz-gelbe Botschaft berufen. Denn längst nicht bei jedem der zwei Millionen Kinder und Jugendlichen, die von Hartz IV leben, werden 20 zusätzliche Euro in Gestalt von Sachleistungen ankommen. Bei vielen wird es möglicherweise kein einziger sein, bei einigen müsste es eigentlich drastisch mehr werden. Vor allem aber: Niemand weiß, wie viel zusätzlich bei wem ankommen wird, auch nicht die Ministerin.

Fangen wir beim eindeutigsten der vier Posten des Bildungspakets an: Das Schulbasispaket sieht 100 Euro jährlich für Schulmaterial vor. Das ist gut, aber nicht neu. Diese Hartz-IV-Sachleistung ist bereits von der großen Koalition beschlossen worden. (Was übrigens auch heißt, dass der Einstieg in Sach- statt Geldleistungen keine Erfindung von Schwarz-Gelb ist). Es handelt sich also nicht um zusätzliche Mittel für die Kinder. Das gilt auch für die Zuschüsse zu Klassenfahrten, die es auch schon längst gibt.

Posten Nummer zwei ist die Lernförderung, zu Deutsch Nachhilfe. Auch sie ist keine Neuerfindung, dürfte künftig aber stärker nachgefragt werden. Sie muss "objektiv" gegeben sein, durch Bescheinigung des Lehrers, beim Jobcenter eingereicht und genehmigt werden. Per Definition also kein Angebot für "jedes Kind". Zudem abzuwickeln über die Ämter, deren Hartz-IV-Bescheide allein im Jahr 2009 über 700.000 Widersprüche und 194.000 Klagen bei Sozialgerichten zur Folge hatten, von denen jede dritte Klage Erfolg hatte.

Wenig vertrauenerweckend also, dass ausgerechnet diese überlasteten Jobcenter auch die Orientierungsstelle für den dritten Posten des Pakets, nämlich die Gutscheine für Vereinsmitgliedschaften oder Musikunterricht werden sollen. Aber entscheidender ist auch bei diesem Posten wieder die Frage: Erhält "jedes Kind" (oder auch nur die, die wollen) eine zusätzliche Leistung? Keineswegs. Als die Arbeitsministerin vor einigen Wochen gefragt wurde, ob ihr Haus einen Überblick habe, wie viele Kinder über kommunale Leistungen, Vereine oder private Stiftungen bereits Angebote dieser Art erhalten oder wahrnehmen, lautete die ehrliche Auskunft: Diesen Überblick hat niemand in Deutschland. Eine Ahnung davon kann man allerdings haben, wenn man mit offnen Augen durchs Land geht. Es gibt nicht nur die Stuttgarter Chipkarte, es gibt auch den Berlin-Pass und viele Kommunen, die Kindern aus Hartz-IV-Familien diese Leistungen bereits anbieten. Auch das ist gut, aber nicht neu. Und deshalb eben keine zusätzliche Leistung für "jedes Kind".

Und das gilt auch für den vierten, den dicksten Posten, das Schulmittagessen. Mit zwei Euro pro Kind und Mahlzeit soll es bezuschusst werden. Man braucht keinen Taschenrechner, um darauf zu kommen, dass diese Maßnahme die 20 Euro blitzschnell überschreiten würde. Aber eben wieder keineswegs für "jedes Kind". Denn leider gibt es nicht überall Kitas und Ganztagsschulen-Schulen mit Mittagessen. Viele Kinder unter drei Jahren sind gar nicht in öffentlichen Einrichtungen. Vor allem aber: Es gibt (gottlob!) viele Länder, Kommunen und Schulen, die mit Kraftakten und privaten Initiativen das Mittagessen bereits bezuschussen. Niemand wäre dagegen, wenn die Kosten jetzt der Bund übernimmt - für eine unbekannte, aber sicher nicht ganz kleine Zahl von Kindern kann von zusätzlichen Leistungen auch hier wieder keine Rede sein.

Die Bundeskanzlerin hat sprachlich auf den Punkt gebracht, was die eigentliche Leistung von Ursula von der Leyens Bildungspaket ist: Die Erfindung des Durchschnittskindes, das sich, weil es nicht existiert, bei niemandem beschweren kann. FDP-Generalsekretär Christian Lindner hat sich kürzlich bei einer abendlichen Diskussion darüber gewundert, warum nur knapp 2000 der 170.000 Berliner Kinder aus Hartz-IV-Familien das Angebot der kostenlosen Mitgliedschaft in Sportvereinen wirklich wahrnehmen. Ein Sozialarbeiter aus dem Publikum lieferte als mögliche Erklärung: Im Sportverein braucht man Turnschuhe.

Für das Hartz-IV-Durchschnittskind zwischen 6 und 14 Jahren sind 33,32 Euro pro Monat für Kleidung und Schuhe vorgesehen. In diesem Alter wachsen übrigens Füße, Arme, Beine manchmal schneller, als Eltern mit ganz normalen Einkommen für Schuhe, Hosen, Hemden zahlen können. Hoffentlich hat Ursula von der Leyens Durchschnittskind eine Oma mit guter Rente.

Für die 20 Euro jedenfalls, da kann man rechnen wie man will, gibt es nur eine plausible Erklärung. Um 20 Euro ist das Kindergeld für alle anderen Kinder in diesem Jahr erhöht worden. Für die zwei Millionen Kinder, die davon gar nichts hatten, wird nun der "Durchschnittswert" geliefert.

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