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Freizügigkeit: Polnische Wirtschaft

Unser Land profitiert, das übersehen wir vor lauter Ängsten gerne, schon seit Jahrzehnten von der europäischen Freizügigkeit. Zehntausende deutsche Facharbeiter und Akademiker arbeiten in vielen EU-Staaten. Die Wertschätzung, die sie dort erfahren, sollte Deutschland seinerseits den Menschen anderer Nationalität entgegenbringen. Ein Kommentar.

Zwölf Jahre Nationalsozialismus und 40 Jahre DDR haben das Polenbild in vielen deutschen Köpfen dunkel eingefärbt. Für die Nazis waren die Nachbarn im Osten Menschen minderen Wertes, für die SED gefährliche Aufrührer, die die Regale des Konsums leer kauften und stattdessen die sich ungebremst vermehrenden Bakterien Freiheit und Demokratie hinterließen. Dann kamen die Sprüche wie „Kaum gestohlen, schon in Polen“, und als sei das alles noch nicht schlimm genug, drohte das Gespenst des polnischen Billigarbeiters, der dem deutschen Kollegen Lohn und Brot raubte. Zum 1. Mai 2004, dem Tag der Osterweiterung der EU, konnte die Bundesregierung die Uhren noch einmal für sieben Jahre anhalten, aber nun ist es so weit: Von morgen an gilt für Polen und sieben andere Staaten Ostmitteleuropas die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit. Schafft sich Deutschland schon wieder ab?

Ganz so furchtbar scheint die Gefahr nicht zu sein, da auch Österreich und die in allen Einwanderungsfragen sehr restriktive Schweiz morgen ihre Grenzen ebenfalls für Arbeitnehmer Ostmitteleuropas öffnen. Tatsächlich haben EU-Staaten wie Frankreich, England und Irland, die eine solche langjährige Karenz nicht für nötig hielten, von der frühen Freizügigkeit deutlich profitiert. Denn neben Hilfskräften kamen viele gut ausgebildete Facharbeiter und Dienstleister, die zum Beispiel als Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger halfen, die Personallücken in Krankenhäusern und Altenheimen zu schließen. Heute räumen britische Arbeitsmarktexperten freimütig ein, dass das heimische Gesundheitssystem ohne den Arbeitskräfteimport aus Osteuropa wohl zusammengebrochen wäre. Dass Osteuropäer jetzt zu Hunderttausenden zu uns kommen, ist ohnedies nicht zu erwarten. Wer in England oder Frankreich heimisch wurde, hat keinen Anlass, nach Deutschland zu ziehen. Die Debatte um Thilo Sarrazin hat nicht gerade dazu beigetragen, für die Bundesrepublik als Hort der Toleranz zu werben.

Natürlich gibt es immer Kriminelle größeren und kleineren Kalibers, die Freiräume missbrauchen. Da sind die Arbeit suchenden Polen oder Tschechen aber eher Opfer als Täter. Wenn die Gewerkschaften deshalb verbindliche Mindesttarife fordern, um Lohndumping durch Leiharbeitsfirmen zu verhindern, sollten sie in der Politik Unterstützung erfahren und nicht etwa auf hinhaltende Verweigerung stoßen. Die Polen, die in Deutschland arbeiten wollen, sind ohnehin seit Jahren da, freilich oft in der Illegalität. Ihnen und ihren Arbeitgebern die endlich erreichte Möglichkeit einer Legalisierung deutlich zu machen, sollte die Politik als Verpflichtung empfinden.

Unser Land profitiert, das übersehen wir vor lauter Ängsten gerne, schon seit Jahrzehnten von der europäischen Freizügigkeit. Zehntausende deutsche Facharbeiter und Akademiker, die in Krisenjahren auf Arbeitslosengeld angewiesen gewesen wären, arbeiten dank der Freizügigkeit in vielen EU-Staaten. Die Wertschätzung, die sie dort erfahren, sollte Deutschland seinerseits den Menschen anderer Nationalität entgegenbringen, die hier Jobs haben.

Dazu müssen wir freilich vor allem, siehe Polen, die Klischees aus unseren Köpfen herausbringen. Es sind Klischees, für deren Fortbestehen nicht nur alte Vorurteile verantwortlich sind, sondern leider auch immer wieder Politiker, die vorhandenes Unbehagen gegenüber Ausländern nicht etwa offen ansprechen, sondern solches Unbehagen gezielt instrumentalisieren oder gar erzeugen.

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