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Meinung: Freud am Fernsehturm

Roger Boyes, The Times

Die Zeit nach Jahren einzuteilen wird mit zunehmendem Alter schwieriger. Nichts, das im Leben Bedeutung hat – eine Krankheit, eine Liebesaffäre, das Lesen oder das Verfassen eines Buches – beginnt am 1. Januar und endet am 31. Dezember. Das Steuerjahr erstreckt sich über 365 Tage, aber wer will das schon feiern? Silvester ist meiner Meinung nach eine Zeit für den Blick nach innen: ein Whiskey, ein Buch, ein Hund zu den Füßen, Telefon, Fernseher und Computer abgeschaltet. „Wer allein ist“, schrieb Gottfried Benn, und der kannte sich damit aus, „ist auch ein Geheimnis“.

Das neue Jahr 2005 wurde in dem wachsenden Bewusstsein der Tragödie in Asien gefeiert – und doch öffneten die Menschen den Sekt, überzeugt, dass allen Neuanfängen etwas Gutes innewohnt, dass die Qualität eines Jahres durch trunkenen Optimismus und die Kraft des positiven Denkens beeinflusst werden kann. Und: Sie lagen falsch, 2005 war für viele, viele Menschen das schlechteste Jahr einer ganzen Generation.

Jahre können nicht vermarktet und verpackt werden wie eine neue Waschmittelmarke; sie sind voller Widersprüche. Und meistens, wenn Regierungen und Werbefirmen sich zusammentun – die schlimmste aller modernen Allianzen –, um eine Marke für ein Jahr auf den Markt zu werfen, geht das in die Hose. Wir sollten zum Beispiel froh sein, dass das Einsteinjahr zu Ende geht. Es hat dem Ruhm des großen Relativisten nicht gerade genutzt. Was stand noch einmal auf dem Kanzleramt? „Der Staat ist für die Menschen und nicht die Menschen für den Staat.“ Ach, wirklich? Die Einstein-Weisheit auf dem Wirtschaftsministerium war so nobelpreisverdächtig wie ein Stammtischspruch: „Der Wert der Leistung liegt im Geleisteten.“

Wenn man öffentliche Gebäude schon mit Textfetzen schmückt, sollte man sich auch beim ungewollten König der Witze, Lenin, bedienen. Ich sah seinen Spruch über Elektrizität und politische Macht in der Sowjetunion auf einem Fabrikschornstein in Minsk, als die Stadt einen ihrer regelmäßigen Stromausfälle erlebte. Leider ist die Zeit der Lenin-Sprüche vorbei, auch wenn Thomas Flierl und seine PDS-Sparkommissare noch immer die Stadt verunsichern.

Es scheint, dass das neue Jahr zum Mozartjahr (250. Geburtstag) und zum Sigmund-Freud-Jahr (150. Geburtstag) wird. Es wird zum Glück keine Mozartsprüche geben, weil das Musikgenie offenbar zum Fluchen neigte und halber Analphabet war. Wir werden aber von Mozartkitsch überflutet werden. Während ich schreibe, werfen Lkw-Fahrer in Salzburg und Wien ihre Motoren an, um Büstenhalter nach Berlin zu bringen, die die kleine Nachtmusik spielen sowie Mozartwurst und Mozarthosen, Mozartgolfbälle und Amadeusrasenmäher. Ich hoffe, die Stadt ist darauf vorbereitet.

Ob wir Mozart Ende 2006 noch lieben, bleibt abzuwarten – zwölf neue Biografien werden den armen Mann endgültig zerteilen. Freud hingegen hat natürlich genug Wörter produziert, um jedes öffentliche Gebäude in Deutschland und Österreich damit zu pflastern. Glücklicherweise sind die meisten dieser Wörter nicht druckbar. Ich kann mir noch vorstellen, dass seine Gedanken über den Penisneid am Fernsehturm am Alex angebracht werden (am besten bevor der in einen Fußball verwandelt wird). Aber all die Texte über Kastration? Ich kann mir schwer vorstellen, dass das Kanzleramt es eilig hat, die Weisheit des guten Doktor zu verbreiten.

Aber es wurde ein Präzedenzfall geschaffen – Gebäude dürfen nicht nackt dastehen, genauso wenig wie Schaufensterpuppen. Es müssen also Worte für 2006 gefunden werden. Mozart und Freud sind ungeeignet, weil sie Österreicher sind, und wir haben unsere Vorbehalte gegen Österreicher, die Karriere in Deutschland machen – oder etwa nicht? Wir brauchen ein deutsches Genie, dessen Worte uns nicht peinlich sind. Die Suche ist eröffnet nach einem Genie, das 1806, 1906, 1956 oder so geboren wurde oder starb.

Die Lösung sollte jedem vor Augen stehen. Gottfried Benn ist ein außergewöhnlicher deutscher Dichter. Er wurde 1886 geboren und starb 1956. Sein Auge, seine Sprache und Skepsis sind Werte die wir brauchen in einer Welt, in der man zum Märtyrer wird, wenn man sich in einem Bus in die Luft sprengt. Wir brauchen nicht mehr Patriotismus, besonders nicht von der „Du-bist-Deutschland“-Art. Wir brauchen Neugier gegenüber der Welt, Präzision statt Geschrei, Sympathie statt Eitelkeit. Wenn wir 2006 verpacken sollen, warum nicht mit den Wörtern von Benn? Warum sollte man sein kurzes Gedicht an Ernst Jünger nicht neben dem Brandenburger Tor aufhängen? Es lautet: wir sind von außen oft verbunden,/wir sind von innen meist getrennt,/doch teilen wir den Strom, die Stunden,/den Ecce-Zug, den Wahn, die Wunden/dess’, das sich das Jahrhundert nennt.

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