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Meinung: Frühstück auf einem trunkenen Schiff

Pascale Hugues, Le Point

Mit ihrem majestätischem Schatten taucht die Kuppel des Panthéons die kleinen runden Tische auf der Terrasse des Café Rostand in morgendliches Halbdunkel. Brutal wird die Ecke am Boulevard Saint Michel von gellenden Schreien aus dem Schlaf geweckt. Der RenaultLieferwagen des Elektrikers Roger Lartigue hat das Fahrrad eines Büroangestellten gestreift und im Vorbeifahren die Stahlklammer gelöst, mit der der bürgerliche Velozipedist die Bügelfalte seiner Hose schützt. Die anschwellende Vormittagshitze bringt die Atmosphäre zum Sieden. Roger Lartigue und der Büroangestellte liefern sich mit französischen Flüchen einen fulminanten Schlagabtausch.

Zur gleichen Zeit liegt das Café M zu Füßen des bodenständigen Backsteinglockenturms der Sankt-Matthias-Kirche noch im Schlaf. Ernst Meyer, der Chef einer Kanalbaufirma, ist versöhnlicher gestimmt als Roger Lartigue. Er hat Verständnis dafür, dass die hässlichen, verbeulten Blechcontainer, die er entlang dem Bürgersteig aufgereiht hat, nicht gerade zum Wohlsein der Gäste des Bistro Rahu beitragen, eines indischen Imbisses, wo mit Stolz „Warsteiner“ zum Curry serviert wird. Ernst Meyer und der Imbissinhaber haben den Konflikt friedlich beigelegt. Rahu hatte die Idee, Christo zu kopieren. Und Meyer hat Rahu erlaubt, seine Container mit mauvefarbenen Seidentüchern und Goldpailetten zu umhüllen. Meyer stört es nicht einmal, dass seine Container jetzt aussehen wie die schwülen Kabinen eines orientalischen Bordells. Und Rahu serviert seine eisgekühlten Lassis im Klein-Bombay der Goltzstraße nun mit doppeltem Elan.

Das Rostand in Saint-Germain und das M in Schöneberg. Paris und Berlin. Um die Seele einer Hauptstadt zu dechiffrieren, gibt es keine bessere Beobachtungsplattform als die Sommerterrasse eines Cafés zur Frühstückszeit. Paris ist eine Stadt, in der vom frühen Morgen an der Stress regiert. Auf dem Bürgersteig vor dem Rostand schnappen Jogger und Walker nach abgasverpesteter Luft. Dazwischen afrikanische Kindermädchen, die blasse Kinder an der Hand hinter sich herziehen, Geschäftsleute, die an ihre Handys gekettet sind, Straßenkehrer, Müllwagen, Vespas, Taxis, überfüllte Busse. Der Lärm ist höllisch, die Spannung fühlbar. Am Ende der Straße flattert eine schlaffe Trikolore erschöpft im Wind.

Vor dem Café M weht keine Flagge, stattdessen prangt an der gegenüberliegenden Fassade ein bunter Reigen antinationalistischer Graffitti, direkt neben dem Lego-Dino- Kuscheltiere-Schaufenster des Kinderladens „Schnuppe“. Auf der Terrasse sitzen Nachtschwärmer mit Dreitagebärten, die ihre Füße mitsamt fluoreszierender Flip-Flops lässig auf die Café- Stühle gelegt haben. Berlin ist eine langsame Stadt, die erst gegen Nachmittag wirklich aufwacht. Alle drei Minuten fährt ein Auto an der Terrasse vorbei, die enge Straße ist auf Tempo 30 getaktet. Ein lasziver Strom aus Tätowierungen und nackten Bauchnabeln wogt auf dem Bürgersteig. Als plötzlich ein überschwänglicher Salsa aus den Lautsprechern sprudelt, rollen die Café-Gäste auf ihren Aluminiumstühlen gemächlich die Hüften und klopfen mit den Zehen den Takt. Die Terrasse des M ist ein trunkenes Schiff, das jeden Morgen zu einer Kreuzfahrt aufbricht. Der gut gelaunte Kellner – offenes Knitterhemd über weißem Ripp-Shirt, gelverwuschelte Haare – verteilt zwanglos Müsli, Rühreier und Schwarzbrot, mit denen die Gäste ihre Mägen für den Tag zementieren.

Im Rostand servieren derweil makellos geschniegelte Kellner aus Sri Lanka in schwarzen Hosen und weißen Hemden mit blasierter Geste luftige Croissants und leichte Butterbrote – symbolische Nahrung, die man zu sich nimmt, während man auf das Mittagessen wartet. Auf ihren Gesichtern deutet sich erst dann der Schatten eines eisigen Lächelns an, wenn sie auf einem kleinen Zinnteller die Rechnung bringen. Mit seinen Marmortresen, Kristalllüstern und Spiegeln mit reich verzierten Holzrahmen stellt das Rostand eine selbstsichere Schönheit zur Schau. Es ist ein altehrwürdiger Existentialistentempel nah am Boulevard Saint Michel. Das Café M dagegen ist weder schön noch in der Geschichte verankert. Aber es hat einen undefinierbaren Charme, eine natürliche Entspanntheit. Es ist zufällig hier gelandet, in einer unbedeutenden Straße, als West-Berlin noch die alternative Hauptstadt des ordentlichen Wirtschaftswunder-Deutschlands war. Die Mauern sind buttergelb gestrichen, die Tische abgewetzt. Wo fängt man besser den Tag an? In einem Szene-Café mit minimalistischem Dekor, oder in einem Haus mit Tradition? Berlin oder Paris? Schwer zu entscheiden, so früh am Morgen.

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