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Was Wissen schafft: Fukushima ist überall

Seit Wochen fließt aus dem Akw Fukushima-Daiichi radioaktives Wasser ins Meer. Jetzt lässt Kraftwerksbetreiber Tepco zusätzlich 11.500 Tonnen ab – höchste Zeit, auch bei uns über Strahlengefahren nachzudenken.

Mit der aktuellen Verklappung von schwach radioaktivem Wasser will Tepco Platz in den Lagertanks auf dem Akw-Gelände schaffen, damit dort das hoch radioaktive Kühlwasser aus den Kellern des Blocks 2 gelagert werden kann. Auch für den Fall, dass in den anderen Kraftwerksblöcken plötzlich stark strahlendes Wasser austritt, werden dringend Auffangkapazitäten benötigt. Ein Umpumpen in mobile Tanks ist kurzfristig nicht möglich – die Menge entspricht dem Fassungsvermögen von etwa 400 Tanklastern. Die Maßnahme ist deshalb, in der gegebenen Situation, unvermeidbar und richtig.

Wesentlich mehr Radioaktivität fließt seit Wochen unkontrolliert ins Meer. Alleine aus dem bei Block 2 entdeckten Leck dürften, grob geschätzt, täglich um die 1000 Tonnen Abwasser strömen. Darin wurden mehr als 400 000 Becquerel Jod-131 pro Liter gemessen, 60-mal so viel wie in den jetzt geleerten Tanks.

Die freigesetzte Radioaktivität hat kurz- und langfristige Auswirkungen auf in Japan produzierte Lebensmittel. Frischware (insbesondere Fisch und Gemüse) kann durch Jod-131 belastet sein, das den größten Teil der in Fukushima ausgetretenen Radioaktivität ausmacht. Wegen seiner kurzen Halbwertszeit von acht Tagen ist es jedoch keine langfristige Gefahr. Dagegen bleibt Cäsium-137, obwohl es nur für einen kleinen Teil der gegenwärtigen Strahlung verantwortlich ist, sehr lange problematisch: Das Isotop hat eine Halbwertszeit von 30 Jahren und wird, wegen seiner chemischen Ähnlichkeit zu Kalium, in Pflanzen und Tieren gespeichert.

Wie viel Radioaktivität bislang in Fukushima ausgetreten ist, lässt sich nur grob schätzen. Durch die Wasserstoffexplosionen wurden bis 15. März beträchtliche Mengen Jod-131 und Cäsium-137 in die Luft abgegeben. Die Messwerte zeigen jedoch, dass es sich nur um einen winzigen Bruchteil dessen handelte, was in Tschernobyl ausgetreten ist. Seitdem klingt die Strahlung in der Umgebung des Akw kontinuierlich ab, derzeit wird keine relevante Aktivität mehr über die Luft verbreitet.

Strömungen in Wasser und Luft, Niederschläge und andere lokale Effekte führen jedoch dazu, dass sich die Isotope nicht gleichmäßig über die Fläche verteilen. Deshalb gibt es „Hotspots“ mit hoher Radioaktivität, auch wenn die Mittelwerte unter den erlaubten Obergrenzen liegen. Frisches Gemüse und Fisch aus Japan kann deshalb in Einzelfällen sowohl mit Jod-131 als auch mit Cäsium-137 belastet sein – beispielsweise lagen Aale, die gestern 90 Kilometer südlich von Fukushima gefangen wurden, deutlich über den japanischen Grenzwerten. Von den japanischen Behörden, die bereits mit dem Schutz der eigenen Bevölkerung Probleme haben, sind keine zuverlässigen Exportkontrollen zu erwarten.

Während zahlreiche andere Staaten Importverbote für Lebensmittel erlassen haben, griff die EU zu einem höchst zweifelhaften Instrument: Sie legte Obergrenzen fest, wonach Lebensmittel aus Japan mehr Cäsium-137 enthalten dürfen als vorher (und auch mehr, als in Japan zulässig ist). Bei Milcherzeugnissen etwa wurde der Höchstwert von 370 auf 1000 Becquerel pro Kilogramm angehoben. Hintergrund dieses Schildbürgerstreichs ist, dass die vorher einschlägige „Tschernobyl-Verordnung“ nur Höchstwerte für Cäsium enthält, weil von der ukrainischen Katastrophe aus dem Jahr 1986 nur noch dessen langlebige Isotope relevant sind. Da man für japanische Lebensmittel jetzt auch Obergrenzen für Jod-131 (und weitere Isotope) brauchte, aktivierte die Kommission kurzerhand eine Liste von Höchstwerten, die seit 1989 in der Schublade liegt. Sie stammt aus einer EU-Verordnung, die eigentlich für den Fall vorgesehen war, dass sich noch einmal ein kerntechnischer Unfall in Europa ereignet. Die relativ großzügigen Obergrenzen haben den Zweck, in diesem Fall die Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen – nach Tschernobyl gab es etwa in Süddeutschland kaum noch Milch, die völlig strahlungsfrei war. Diese Großzügigkeit ist für Importe aus Japan, die für die hiesige Grundversorgung irrelevant sind, zweifelsohne fehl am Platz. Bleibt zu hoffen, dass der Brüsseler Schildbürgerstreich eine kurze Halbwertszeit hat.

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