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Gastfreundschaft: In der deutschen Kneipe ist man vor dem KGB sicher

Was macht man mit einem vergifteten Spion? Man nimmt ihn mit in seine Stammkneipe, meint Times-Korrespondent Roger Boyes. Und erkennt eine besondere deutsche Eigenschaft.

Die meisten ausländischen Korrespondenten in Berlin kennen das: Auf dem Höhepunkt einer deutschen Krise oder im Moment einer deutschen Identitätsimplosion (Ist Lena gut genug? Warum sind wir in Prinz William vernarrt?) ruft die junge Redakteurin einer Zeitung oder eines Senders an und sagt: „Herr Boyes, wir brauchen den Blick von außen.“ Der gefürchtete BVA.

Das alles begann mit Werner Höfer und seinen kettenrauchenden Ausländern, und obwohl seitdem der Kommunismus gescheitert, die Mauer gefallen und Deutschland zusammengewachsen ist, existiert dieses Interesse am BVA noch immer. Merkwürdig, aber warum auch nicht? Mein Problem besteht nur darin, dass der BVA nach so langer Zeit in Deutschland längst ein BVI ist. Manchmal träume ich sogar auf Deutsch. Die Verben habe ich immer kurz vor dem Aufwachen zusammen.

Und dann steht plötzlich ein echter Ausländer vor der Tür und man blickt wieder ganz anders auf das Land. Ich kenne Viktor Kalaschnikow (so heißt er wirklich!) und seine Frau Marina seit einigen Jahren, und sie haben mir immer eine neuen Blick auf die Dinge vermittelt: Kalaschnikow war früher KGB-Agent, erst in Brüssel, dann 1989 in Wien während der mitteleuropäischen Revolutionen und dem Mauerfall. Viktor war es, der die Nato-Unterlagen gesichtet hat, die der Stasi-Superspion Rainer Rupp gestohlen hatte. Während der Wiedervereinigung sortierte er die Stasi-Akten aus, die nach Moskau geschickt werden sollten. Er kennt also die Geheimnisse von vielen Deutschen.

Und heute? Es sieht ganz so aus, als ob jemand die beiden vergiften wolle. Seitdem er den KGB verlassen hat, arbeitet Viktor als Journalist und schreibt brisante Stücke über die Karrieren anderer ehemaliger Agenten, über die russische Hilfe für Dschihadisten und über Wladimir Putin, der gerade wieder als großer Freund Deutschlands begrüßt wurde. Viktor hat also Feinde. Tests in der Charité haben ergeben, dass seine Frau und er 50 Mikrogramm Quecksilber pro Liter im Blut haben. Normal sind zwei Mikrogramm. Ärzte versichern mir, dass man auf solche Werte nur kommt, wenn man jahrelang drei Mal am Tag Thunfisch und Walfleisch isst. Oder wenn einem alle Amalgamfüllungen auf einmal zerbröseln. Oder wenn man in einer Fabrik arbeitet, in der Quecksilberabfall entsteht.

Oder wenn man nach und nach vergiftet wird. Und weil das so ist, haben die Kalaschnikows sich bei der Polizei gemeldet. Mit einer Quecksilbervergiftung ist es so eine Sache: Der Gaumen schwillt an, die Haut reißt ein, man verliert Gewicht. Aber vor allem wartet man, ob sich das Quecksilber im Kreislauf mit dem Protein in den Hirnzellen oder im zentralen Nervensystem verbindet. Man wartet auf die Erinnerungsschwächen, die epileptischen Anfälle, die Halluzinationen. Es ist ein besonders hinterhältiges Gift, langsamer als Polonium, mit dem ein anderer Ex-KGB-Mann, Alexander Litwinenko, in London getötet wurde, aber durch und durch vernichtend. Was macht man mit einem vergifteten Spion? Man nimmt ihn mit in seine Stammkneipe. Er und seine Frau saßen mit dem Rücken zur Wand im Nichtraucherraum, nah am Notausgang, für den Fall, dass jemand sie erledigen will. Es gibt andere Methoden, eine solche Vergiftung zu behandeln – aber die sind zu teuer. Die beiden müssen sich also gedulden. Und in der Zwischenzeit kann ein Weizenbier ja nicht schaden.

Wo sitzt man besser die Zeit ab als im „Floh“, einer Kneipe, die sich seit dem Kalten Krieg nicht verändert hat. Schon beim zweiten Treffen sitzt Viktor nicht mehr gekrümmt oder blickt misstrauisch auf die Stammgäste. Er bestellt die Steakpfanne und dazu ein Bier. Man sieht geradezu, wie die Quecksilbermenge abnimmt. Der Ex-KGBler auf der Flucht beginnt sich zu entspannen. Mehr noch: Er assimiliert sich. Beim dritten Besuch des „Floh“ lachen wir sogar. Er erzählt mir alte KGB-Geschichten, um sein Erinnerungsvermögen am Leben zu halten: Anti-Quecksilber-Training, Gehirnjogging für Spione.

Inzwischen nicken die übrigen Gäste Viktor zu, wenn er reinkommt. Wenn ihn nicht ein russisches Erschießungkommando erwischt, werden sie ihm bald zurufen: „Na, Viktor, wie geht’s denn so?“ Und das ist der wahre Blick von außen. Wenn ich meine Kneipe mit seinen Augen sehe, mit den Augen eines Russen fern der Heimat, dann erkenne ich eine besondere deutsche Eigenschaft: Gastfreundschaft. Nach einer Weile in dem Mikrokosmos einer Berliner Kneipe wird man mit Zuneigung aufgenommen. Das erlebt man sonst auf der Welt vielleicht noch in Irland. Viktor wird langsam ein Stammgast, und solange er für sein Weizenbier zahlen kann, verfügt er über einen Zufluchtsort.

Aus dem Englischen übersetzt von Moritz Schuller.

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