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Gastkommentar: Besser als jede DDR-Verfassung

Mit dem Grundgesetz lässt sich demokratischer Sozialismus verwirklichen.

Das Grundgesetz von heute unterscheidet sich erheblich von dem im Jahr 1949 verabschiedeten. Es wurde seit seiner Entstehung fast ausschließlich verschlechtert, erinnert sei an die Notstandsgesetze, die Wiedereinführung der Wehrpflicht und die Schaffung der Bundeswehr 1956. Das Grundgesetz wurde noch von jeder Bundesregierung aus machttaktischem Kalkül zurechtgestutzt oder mittelbar angegriffen, und auch Bündnis 90/Die Grünen stehen in dieser Tradition.

Trotz alledem – das Grundgesetz ist eine zivilisatorische Errungenschaft, und aus linker Sicht kann man sagen: Mit dem Grundgesetz ist demokratischer Sozialismus eher zu verwirklichen als mit sämtlichen DDR-Verfassungen. Keine DDR-Verfassung – auch nicht die nach einer Volksabstimmung im Jahr 1968 angenommene – war die Verfassung eines Rechtsstaates. In der DDR-Verfassung war die Führung durch die Arbeiterklasse und ihre marxistisch-leninistische Partei festgeschrieben, das Gesetzgebungsorgan Volkskammer entschied über die Verfassungsmäßigkeit von Rechtsvorschriften und eine Verwaltungsgerichtsbarkeit fehlte.

Dies widerspricht demokratischem Sozialismus. Denn der bedeutet, soziale Rechte und sogenannte bürgerliche Freiheitsrechte gleichberechtigt zu behandeln. Allerdings ist es auch der Linken noch nirgendwo auf Dauer gelungen, sogenannte bürgerliche Freiheitsrechte und soziale Rechte im konkreten Konfliktfall zu einem gerechten Ausgleich zu bringen. Im Gegenteil: Im Zweifel hat sie Freiheitsrechte zugunsten von sozialen Rechten eingeschränkt.

Das Grundgesetz lässt – seinerzeit als besserer Gegenentwurf zum „Sozialismus“ offen formuliert und damit nicht vordergründig als bürgerlich-kapitalistische Verfassung erkennbar – paradoxerweise demokratischen Sozialismus zu. Denn im Mittelpunkt steht, auf dem Papier, die Würde des Menschen. Das Grundgesetz gewährleistet das Recht auf Opposition und Meinungsfreiheit, und noch konnte mit Verweis auf die Menschenwürde und die Ewigkeitsklausel partiell dem Umbau zum präventiven Sicherheitsstaat das eine oder andere Mal ein Riegel vorgeschoben werden. Das Grundgesetz garantiert den Sozialstaat, wenn auch etwas substanzlos und frei zur Interpretation durch Gerichte. Diese machen davon auch heftig Gebrauch, und so steht trotz der Menschenwürde einem Asylbewerber weniger Geld zur Verfügung als einem Hartz-IV-Empfänger. Bei beiden ist das soziokulturelle Existenzminimum nicht gesichert, und das, obwohl die Würde des Menschen und das Sozialstaatsgebot im Grundgesetz verankert sind. Im Grundgesetz findet sich Artikel 14, nach dem der Gebrauch des Eigentums auch dem Allgemeinwohl dienen soll. Unter bestimmten Bedingungen sind gar Enteignungen erlaubt. Der Artikel 15 regelt die Vergesellschaftung. Welch Dorn im Auge diese Bestimmungen konservativen und liberalen Politikern sind, hat sich in den vergangenen Monaten gezeigt. Trotz Finanzkrise wurde nur sehr zögerlich an diese Bestimmungen gedacht. Und diese Schlüsselbestimmungen stehen auch immer wieder auf der Agenda konservativer und liberaler Politiker, wenn es um Veränderungen des Grundgesetzes geht. Das Grundgesetz würde jedoch einer seiner wichtigsten Bestimmungen beraubt, würden diese Regelungen fallen.

Das Grundgesetz ist gut, aber noch nicht gut genug. Es muss ergänzt und präzisiert werden – um Elemente direkter Demokratie, um die Wiederherstellung des Asylrechtes und um genauere Ausformulierungen des Sozialstaatsgebotes. Dies ist vordringlicher als eine Debatte um eine neue Verfassung. Die Chance dazu wurde mit arroganter Borniertheit westdeutscher Parteien 1990 vertan.

Eine neuerliche Verfassungsdebatte läuft Gefahr, ein Dokument zu produzieren, von dem nicht klar ist, ob es besser als das Grundgesetz ist oder nicht eher wichtiger Errungenschaften des Grundgesetzes beraubt wäre. Ostdeutsche leben seit 20 Jahren mit dem Grundgesetz, sie können schlecht als aktueller Anlass herhalten, das Grundgesetz zu ändern. Das Grundgesetz ist noch nicht reif für die Rente, es wartet eher darauf, endlich umgesetzt zu werden.

Die Autorin ist stellvertretende Parteivorsitzende der Linken.

Halina Wawzyniak

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