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Meinung: Gastkommentar: Die wahren Fünf-Mark-Nutten

Auch wenn manchmal ein etwas erschöpfter Ton in meinen Kommentaren aufscheint: Ich war nicht immer in meinem Leben ein zynischer Auslandskorrespondent. Es gab eine Zeit, in der ich ein zynischer Theaterkritiker war.

Auch wenn manchmal ein etwas erschöpfter Ton in meinen Kommentaren aufscheint: Ich war nicht immer in meinem Leben ein zynischer Auslandskorrespondent. Es gab eine Zeit, in der ich ein zynischer Theaterkritiker war. Damals lernte ich die raffinierte Kunst, die Aufführung bereits in der Pause zu besprechen und den Text an die Redaktion zu schicken. Englische Dramatiker - besonders Shakespeare - sind schwach, was den Schluss anbelangt. Deshalb haben meine Leser nicht viel verpasst.

Ohne Zweifel war es diese Theatererfahrung, die die Redaktion der "Times" dazu brachte, mich in der vergangenen Woche ins Wendland zu schicken. Raus aufs Land, zu den Menschen - "auf die Heide", wie es im ersten Akt von Macbeth, erster Aufzug, heißt. Die Grünen sind wie Banquos Geist, der nicht am Fest teilnimmt, aber irgendwie trotzdem präsent ist. Die Anti-Atom-Bewegung gibt Helden im Beton. Die Vorboten des Unglücks: die Autonomen, schwarz maskiert, wie in allen guten griechischen Dramen. Die Polizei? Tragisch unverstandene Hamlets mit Wasserkanone und Pfefferspray. Die Auflösung - ein schwacher Anti-Höhepunkt, der der Londoner Bühne alle Ehre machen würde.

So fuhr ich nach Dannenberg mit einem angenehmen Gefühl der Vorfreude. Vorfreude auf die Vorstellung und darauf - wie immer - in der Pause zu schreiben. Nach einer Weile verstand ich jedoch, das wir Journalisten gar nicht als kritisches oder neutrales Publikum vorgesehen waren. Wir sollten als willige Rekruten der "Tausend-Mal-Quer"-Kampagne dienen: als Soldaten, nicht als Kriegsberichterstatter. Jeder Anschein von Objektivität ging am ersten Tag des Protests verloren. Greenpeace führte einen der typischen, exhibitionistischen Angriffe auf eine Zugbrücke. Ein Angriff, der keinen Sinn hatte außer den, gute Fernsehbilder für die frühen Nachrichtensendungen des Privatfernsehens zu produzieren. Kameramänner wurden natürlich eingeladen, am Angriff teilzunehmen.

Die Anti-Castor-Webseiten meldeten den Demonstranten, wo die Fernsehstationen ihre Korrespondenten platzieren und wann live gesendet wird. Die Blockade der Gleise gehorchte nicht den Prinzipien von Mao Tse-Tung, sondern den Programmhinweisen der "Hör Zu".

Schaubühne Wendland

In einem Info-Zelt appellierte eine Dame an mein Gewissen: "Gehen Sie bitte zu dieser und zu jener Blockade. Die Polizisten sind erschöpft und werden Gewalt anwenden. Wenn sie Journalisten sehen, werden sie niemanden zusammenschlagen." Wie ein treuer Bernhardiner, der verunglückten Skifahrern hilft, trottete ich zur Blockade. Der Empfang war unterschwenglich: "Wir hatten eigentlich das Fernsehen erwartet", sagte ein Demonstrant. Fast hätte ich mich entschuldigt. Ich erinnerte mich daran, dass Bernhardiner von den Chinesen gern gegessen werden.

Die Autonomen waren die Schlimmsten. Es gibt nichts, was sie nicht tun würden, wenn sie einen Kameramann entdecken. Dann schmeißen sie ihre Steine und Flaschen, schießen ihre Leuchtraketen ab und schauen sich um, um sicher zu gehen, das alles auch live auf n-tv gesendet wird. Trotz des Verdikts von Joschka Fischer - wo war der eigentlich? Seine Erfahrung hätte nützlich sein können -, waren die Autonomen die "Fünf-Mark-Nutten" und nicht die Journalisten.

An das Argument der Anti-Nuklear-Bewegung, dass die Castor-Transporte irgendwann gestoppt würden, wenn man sie nur teuer genug macht, habe ich nie geglaubt. Das ist ein naiver Irrtum. Das Geld ist inzwischen irrelevant. Nein, das wirkliche strategische Ziel der Inszenierung im Wendland ist es, die große deutsche Öffentlichkeit zu erreichen, über die Köpfe der Grünen und ihres Junior-Partners, der Sozialdemokraten, hinweg. Wenn ganz normale Deutsche Gelegenheit haben, die Absurdität von Gorleben zu sehen, dann werden sie ihre Regierung vielleicht, ganz vielleicht anschreien: Beendet diese Farce! Stoppt diese Tragödie!

Die Journalisten haben in ihrer verrückten Hatz nach Bildern und Aufregung an dieser Kampagne eher teilgenommen, als ehrlich über sie zu berichten. Sie haben sich beschämend benommen. Natürlich sollte Deutschland über die Vor- und Nachteile unterschiedlicher Energieformen diskutieren. Aber die letzte Woche hat gezeigt, dass das Fernsehen die Propaganda der Debatte vorzieht. Dass es seine Fähigkeit verloren hat, zwischen Fakten und Fiktion zu unterscheiden. Für Theater ist die Schaubühne der richtige Ort und nicht das Wendland.

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