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Gastkommentar: Es lebe das freie Mandat!

Wem wir diesen Wahlausgang in Hessen verdanken, darüber wird vielleicht noch eine Weile gestritten. Wem wir aber diesen Wahlgang selber verdanken – das steht fest, nämlich dem "freien Mandat", wie es im Artikel 38 des Grundgesetzes formuliert ist.

Die Abgeordneten „sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“. Interessanterweise ist die entsprechende Formulierung in der hessischen Landesverfassung nicht so deutlich ausgeprägt. Da heißt es nur: „Die Abgeordneten sind Vertreter des ganzen Volkes.“ Macht aber nichts: Das Grundgesetz geht vor.

Würde bei uns (und in Hessen) das „imperative Mandat“ gelten, wie dies in der Verfassungsdiskussion von links immer wieder gefordert wird, wären auch die vier sozialdemokratischen Abweichler im Wiesbadener Landtag an das Kommando der Fraktionsführung gebunden gewesen – und Andrea Ypsilanti längst hessische Ministerpräsidentin. So aber konnten jene vier Abgeordneten – allein auf ihr persönliches Urteil gestellt und bereit, die persönlichen und politischen Konsequenzen (und die Beschimpfungen) zu ertragen – verhindern, dass ein Wortbruch erfolgreich betätigt wurde und, nebenbei, eine Regierung ins Amt kam, die von fast zwei Dritteln der Wähler nie gewollt war.

Zwar ist es inzwischen um die Forderung still geworden, unsere Verfassung sollte im Sinne eines „imperativen Mandats“ geändert werden, wie sie noch so lebhaft in den siebziger Jahren erhoben worden war, als einige Abgeordnete der FDP die Regierung Brandt/Scheel im Stich ließen. Aber die Formulierung, dass die Abgeordneten nur ihrem Gewissen verantwortlich seien, bleibt doch einem gewissen, wenn auch nachsichtigem Spott ausgesetzt, als handle es sich nur um romantische Verfassungslyrik. Spricht nicht die politische Realität dieser hohen Formulierung Hohn? Ist der Fraktionszwang nicht täglich am Wirken?

Zweierlei ist dem entgegenzuhalten: Zum einen weiß natürlich auch der liberalste Verfassungstheoretiker, dass man in Parlamenten Fraktionen braucht und dass Fraktionen auf eine gewisse kollektive Handlungsfähigkeit angewiesen sind. Aber es macht einen Unterschied aus, ob die in der Regel notwendige Fraktionsdisziplin (und wo gäbe es eine Politik ohne ein Maß von Disziplin?) auf einem vorweg gesicherten Kadavergehorsam beruht – oder auf der Notwendigkeit führender Überzeugungsarbeit. Insofern entspricht dem Fraktionszwang nach unten ein Überzeugungszwang nach oben.

Zum Zweiten: Es kommt nicht darauf an, ob sich die Abgeordneten tatsächlich Tag und Nacht auf ihr freies Gewissen berufen. Aber es kommt sehr wohl darauf an, dass sie im Krisenfall – mit allen Konsequenzen, aber ohne Sanktionen – in dem amtierenden Parlament unverzagt ihrer persönlichen Überzeugung folgen können. Gerade die Institution des freien Mandates gewährleistet, dass solche Krisenfälle eher seltener eintreten. Und es verhindert, dass die Parlamente und die politischen Prozesse langweiliger und steriler werden, als wir es uns leisten können.

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