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Gastkommentar: Spätantike ist überall ... ... und Dekadenz ein umfassendes Phänomen

Die Hysterie ist nicht angebracht. Man muss nicht gleich den Untergang des Abendlandes heraufbeschwören, um in unseren Gesellschaften auf Vergleichbares zur Spätantike zu stoßen. Was Westerwelles Wortwahl angreifbar macht, ist nicht die Kritik an sich, sondern ihre Eindimensionalität.

Als ob die Überforderung des Staates nur von Hartz-IV-Empfängern ausginge und nicht ein durchgängiges gesellschaftliches Phänomen ist.

Der Sozialstaat könnte manche Sonderausgabe für Hartz-IV-Empfänger verkraften, wenn er nicht überall anders gefordert wäre. So waren die Rettungsmilliarden für die Banken nichts anderes als die Erpressung einer kleiner Managerelite mit vorgehaltenem Revolver: Stützt uns oder wir reißen euch alle mit in den Abgrund. Und obwohl von der Politik heilige Eide geschworen wurden, das nie wieder zuzulassen, wächst im Schatten der drohenden Insolvenz Griechenlands die nächste Bankenkrise heran. Und wieder wird mit dem Untergang aller gedroht.

Doch die römische Spätantike wiederholt sich auch anderswo: Wir haben es jahrzehntelang zugelassen, dass Menschen aus fremden Kulturen nach Europa strömten, um hier als billige Arbeitskräfte zu dienen. Dabei sind ganz wie in den antiken Megastädten mit Sozialhilfe subventionierte Parallelgesellschaften entstanden und längst fehlt uns die Kraft, diese Menschen entweder zu integrieren oder uns von ihnen zu trennen. Und sollte die Türkei am Ende doch Mitglied der EU werden, wiederholt sich jene Politik des zu Ende gehenden römischen Reiches, Fremde zur Verteidigung dieses Reiches innerhalb seiner Grenzen anzusiedeln.

Dass Europa ganz ähnlich dem späten Rom von einer Bürokratie in Brüssel überrollt wird, die den Menschen fern und fremd vorkommt und durch keine europäischen Wahlen heimisch gemacht werden kann, ist eine weitere Analogie. Aber auch das Steuerelend in den Provinzen, das dazu führt, dass manche Gemeinde im Ruhrgebiet Theater abwickeln und Schwimmbäder schließen muss, hatte Vorläufer im West- wie im Ostreich. Und natürlich entzog sich unter diesen Umständen jeder, der konnte, einer immer drückenderen Steuerlast. Und so trat an die Stelle des bürgerschaftlichen Engagements der römischen Republik eine soziale Umverteilungsmaschinerie – Brot und Spiele – unter den späten Kaisern.

Wenn heute Ole von Beust den Egoismus jener bürgerlichen Wähler beklagt, die die Gemeinschaftsschule verhindern wollen, dann ist deren Engagement nur die Folge einer Verelendung der öffentlichen Schulen, der sich die, die es sich leisten können, wie im untergehenden Rom durch die Flucht auf Privatschulen und Elitegymnasien entziehen. Auch damals wurde der Mittelstand, der noch die römische Republik geformt hatte, am Ende zwischen den Wenigen oben und den Vielen unten zerrieben. Wenn schon historische Vergleiche, dann bitte ohne politische Schlagseite, denn Spätantike ist überall, und dekadent sind nicht nur die Armen.

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