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Meinung: Geister der Vergangenheit

China lässt Studenten gegen Japan demonstrieren – ein gefährliches politisches Spiel

Die Studenten marschierten vom Pekinger Universitätsviertel Haidian zum Platz des Himmlischen Friedens. Sie brüllten antijapanische Parolen, verteilten Flugblätter. Immer mehr Bürger schlossen sich Ihnen an. Im Diplomatenviertel stürmten sie das Haus des japanfreundlichen Verkehrsministers. „Nieder mit den Verrätern“, schallte es durch die Straßen.

So passierte es 1919 in Peking. Aus den Protesten entstand die 4.-Mai-Bewegung, die Chinas Geschichte verändern sollte. Auch damals gingen die Studenten als Erstes auf die Straßen. Auch damals richtete sich der Protest gegen die Besatzungsmacht Japan. Doch hier enden die historischen Parallelen: Die heutigen antijapanischen Proteste, an denen in den vergangenen Wochen zehntausende Chinesen teilnahmen, sind von der Regierung gesteuert. Für die Studenten, für die der Protest gegen Japan eine Abwechslung vom Studienalltag ist, stehen Busse bereit. Als Japans Außenminister am Wochenende zu Gesprächen nach Peking kam, blieben sie zu Hause. Gestattet waren nur Proteste außerhalb der Hauptstadt.

Auslöser der gesteuerten Proteste sind nach wie vor die geschichtsklitternden Formulierungen in einem neuen japanischen Geschichtsbuch. China und Südkorea, die einst unter der Besetzung durch Japan litten, sehen in dem von Tokios Regierung zum Unterricht freigegebenen Buch eine Verharmlosung der japanischen Kriegsverbrechen. Auch wenn der Band, wie Tokio beteuert, nicht verboten werden konnte, auch wenn er nur von unter einem Prozent aller Schulen genutzt wird: Japans Nachbarn fühlen sich zu Recht provoziert.

Chinesischen Schätzungen zufolge starben während der japanischen Besatzungszeit in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts 35 Millionen Menschen. Allein beim Massaker in Nanking metzelten Japans Soldaten hunderttausende Zivilisten nieder. Zwar zahlte Tokio nach Kriegsende China, Südkorea und anderen Staaten großzügige Entschädigungen. Aus Sicht vieler Chinesen und anderer Asiaten hat sich Japan jedoch nie richtig für seine Kriegsverbrechen entschuldigt.

Japans mangelnde Aufarbeitung seiner Kriegsvergangenheit ist jedoch nur die eine Seite in dem Streit. Auch in China benutzt die Regierung die Geschichte für innenpolitische Zwecke. Chinesische Staatsmedien und Schulbücher stilisieren Japan seit Jahren zum Erzfeind. Die bis heute großzügigen japanischen Entwicklungshilfezahlungen bleiben unerwähnt – wie übrigens auch die Kriegsverbrechen der chinesischen Armee.

Stattdessen wird das Volk mit Nationalismus weichgespült: Schon im Kindergarten lernen Chinesen, zu Militärmusik zu marschieren und patriotische Lieder zu singen. Die Folge dieser Erziehung und Desinformation ist eine ausgeprägte antijapanische Stimmung in China. Vergangenes Jahr demolierten chinesische Fußballfans nach einer Niederlage gegen das Team des Nachbarstaates japanische Autos und lieferten sich anschließend Straßenschlachten mit der Pekinger Polizei.

Der Streit um die Schulbücher ist für Peking ein willkommener Vorwand, um sich gegen Tokios Wunsch nach größerem regionalen und internationalen Einfluss zu stellen. Zugleich sind die Demonstrationen ein Ventil für das Volk, um Druck abzulassen. Die disparate Wirtschaftsentwicklung in China sorgt für wachsende gesellschaftliche Spannungen. Japan mag für die KP-Regierung ein bequemer Sündenbock sein, um von den Problemen im eigenen Land abzulenken. Das Spiel ist jedoch gefährlich, für Tokio wie für Peking. Dann nämlich, wenn die Volkswut selbst zur Politik wird.

Harald Maass

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