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Meinung: Generation Hitlerjugend

Grass, Habermas, Jens: Unsere Friedensfreunde versagten bei der Einheit Von Tilman Fichter

Günter Grass sprach sich 1990 gegen eine Neuvereinigung Deutschlands aus – wegen Auschwitz. In einem Vortrag, den Grass im Februar 1990 in Frankfurt hielt, erzählte er von dem Schock, den er 1945 erlebt hatte, als er als 17-jähriger Soldat (wie wir jetzt wissen, der Waffen-SS) in US-Gefangenschaft mit Bildern aus den KZs konfrontiert worden war und darauf mit „vertrotzter Stärke von Unbelehrbarkeit“ reagiert hatte. Dass diese Bilder echt waren, glaubte er erst, nachdem Baldur von Schirach im Nürnberger Prozess 1946 ausgesagt hatte, dass solche Verbrechen stattgefunden hätten, die HJ damit aber nichts zu tun gehabt habe.

Sein Erschrecken 1945 spielte er 1990 gegen den Vereinigungswunsch von großen Teilen der DDR-Bevölkerung aus: „Indem ich meinen Vortrag unter die lastende Überschrift ‚Schreiben nach Auschwitz‘ stelle 8 (…), will ich zum Schluss die Zäsur, den Zivilisationsbruch Auschwitz dem deutschen Verlangen nach Wiedervereinigung konfrontieren. Gegen jenen aus Stimmung, durch Stimmungsmache forcierten Trend, gegen die Kaufkraft der westdeutschen Wirtschaft, ja sogar gegen ein Selbstbestimmungsrecht, das anderen Völkern ungeteilt zusteht, gegen all das spricht Auschwitz.“ Auch andere Angehörige der HJ-Generation nahmen die NS-Verbrechen als Begründung, um der Bevölkerung in der gerade untergehenden DDR ihr Recht auf Selbstbestimmung abzusprechen. Grass erlebte die Neuvereinigung, ähnlich wie der Ex-HJler und Fronthelfer Jürgen Habermas (Jg. 1929) oder der ehemalige NS-Nachwuchs-Ideologe Walter Jens (Jg. 1923) überwiegend als narzisstische Kränkung.

Die drei Vordenker der Friedensbewegung in den 80er Jahren hatten – so meine These – längst die Zweistaatlichkeit Deutschlands als nachholende Sühne für die Schuld der NS-Mehrheitsgesellschaft verinnerlicht. So erklärte Jens 1990: „Eingedenken tut not und kein geschichtsferner Traum von einer Wiedervereinigung, die in Wahrheit, da es Auschwitz gab, undenkbar ist.“ Habermas, der damals das Auschwitz-Argument mied, artikulierte seine emotionale Abwehr gegen die Einheit mit Begriffen wie „pausbäckiger DM-Nationalismus“ oder „Wirtschaftsnationalismus“.

Anders reagierte der viel ältere, durch Widerstand, Exil und Kalten Krieg geprägte Willy Brandt (Jg. 1913), als die Einheit auf der Tagesordnung stand. Er erkannte augenblicklich die historische Chance und verabschiedete sich von seiner Deutschlandpolitik der kleinen Schritte. Brandt verkörperte 1989 das „Andere Deutschland“, für das Julius Leber, Sophie und Hans Scholl oder Graf von Stauffenberg gestorben waren. Das Beispiel der „Weißen Rose“ ist deshalb so wichtig, weil Hans Scholl sich 1936 von der HJ getrennt und einer illegalen Gruppierung der Bündischen Jugend angeschlossen hatte. Denken und Sprache dieser widerständigen Jugendkultur finden sich im Aufbruchspathos der „Weißen Rose“ wieder.

Das in der HJ-Generation vorherrschende Bewusstsein, das sich von dem der Frontgeneration – zum Beispiel von Helmut Schmidt (Jg. 1918) – deutlich unterschied, war nicht etwa durch Krieg und tagtäglichen Tod an der Front geprägt. Ihre Psyche war vielmehr durch die Geborgenheit im „Jungvolk“-Fähnlein, die Jugendwelt der HJ- und BDM-Lager und den Führerkult beeinflusst. Die Heranwachsenden im Braunhemd hatten nach 1945 eine als glücklich erlebte Jugend in der NS-Volksgemeinschaft zu bewältigen: „Die schönste Zeit“ – so Grass noch in der FAZ vom 12. August 2006 – „war beim Jungvolk“.

Im Weltbild der HJ hatten antibürgerliche, religionsfeindliche sowie antisozialistische Komponenten eine wichtige Funktion. Die HJ kannte keine Debattenkultur, sie sozialisierte die Jugendlichen im Glauben an Hitler und Großdeutschland. Bis zuletzt rechnete das Gros dieser Generation mit dem „Endsieg“. Die jungen Nazis erlebten die letzten Kriegswochen als Kanonenfutter im „Volkssturm“ oder in rasch zusammengewürfelten SS-Einheiten. Die Niederlage war für sie eine Art Naturkatastrophe. Ihr Deutschland ging am 8. Mai 1945 unter.

Der Autor, geboren 1937, war 1963–1970 und 1987–2001 Referent für Schulung und Bildung beim Parteivorstand der SPD.

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