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Türken in Frankreich demonstrieren gegen das neue Gesetz.

© dpa

Genozid-Leugnungsgesetz in Frankreich: Geschichte als Dogma

Frankreich verbietet die Leugnung des Genozids an den Armeniern – das ist falsch. Meinungsfreiheit kann man nicht einklagen, wenn man sie selbst einschränkt.

Bald braucht man einen Reiseführer durch das Dickicht staatlich verordneter Geschichtsbilder: In Ungarn und Polen darf man die nationalsozialistischen und stalinistischen Verbrechen nicht leugnen, in Frankreich nicht den Massenmord an den Armeniern, den zu thematisieren wiederum kann in der Türkei als „Beleidigung des Türkentums“ strafbar sein, und in Deutschland ist es verboten, den Holocaust zu leugnen, aber erlaubt, den Massenmord in Ruanda infrage zu stellen.

Der türkische Ministerpräsident Erdogan nennt die Entscheidung Frankreichs, das Leugnen des Genozids an den Armeniern unter Strafe zu stellen, ein „Massaker an der Meinungsfreiheit“. Und da hat er, der ja selbst ein Experte für das Massakrieren von Meinungen ist, recht. Meinungsfreiheit kann man nicht einklagen, wenn man sie selbst einschränkt. Wer sie für dänische Karikaturisten und ägyptische Blogger einfordert, muss sie auch im eigenen Land ertragen. Als glaubwürdiger Mahner für Menschenrechte und Meinungsfreiheit kann Frankreich so kaum noch in Erscheinung treten.

Der historische Erkenntnisprozess wird nicht durch juristische Festschreibungen, so gut gemeint sie auch sein mögen, gesteuert. Erkenntnis lebt vom Widerspruch. Auch die erfolgreiche Ächtung der Holocaustleugnung in Deutschland ist schließlich keine Reaktion auf die Gesetzgebung. In einer Demokratie kann niemand „ein richtiges, vom Staat verwaltetes Geschichtsbild“ wollen, sagt der ehemalige Verfassungsrichter Winfried Hassemer.

Leugnungsverbote führen die Rechtsordnung in unauflösbare Widersprüche, wenn sie beginnen muss, zu unterscheiden: Warum dürfen die stalinistischen Verbrechen oder auch die eigenen Kolonialverbrechen in Frankreich weiter abgestritten werden? Was sollen die Franzosen zu Kambodscha sagen dürfen? So wirkt dieses moralisch aufgeladene Leugnungsverbot doch nur wie ein innenpolitisches Manöver im Wahlkampf.

Auch in Ungarn wird ein Gesetz, das ins Leben gerufen wurde, um das Leugnen des Holocaust zu bestrafen, inzwischen auf die Leugnung der stalinistischen Verbrechen angewandt. Warum auch nicht? Nur: Was wird dann als Nächstes unter Strafe gestellt?

Der Preis für solche Gesetze ist also immer sehr hoch. Denn jedes Meinungsverbot wertet das Verbotene auf, jedes Verbot muss kontrolliert werden, jedes Verbot schafft prominente Meinungsmärtyrer, und die juristische Ahndung solcher Leugnungen ist kompliziert. Vor ein paar Jahren musste sich ein deutsches Gericht zum Beispiel mit der Frage beschäftigen, ob die Tierschutzorganisation Peta bestraft werden muss. Die hatte mit dem Slogan „Der Holocaust auf ihrem Teller“ geworben.

Das Bundesverfassungsgericht hat 1994 erklärt, dass die in Deutschland grundgesetzlich geschützte Meinungsfreiheit für die Holocaustleugnung nicht gelten kann: weil das eine erwiesen unwahre Tatsache sei. Dass sich damit auch die französische Entscheidung, in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit, rechtfertigen lässt, zeigt, wie sehr das deutsche Holocaustleugnungsverbot eine vergleichbare Einschränkung der Meinungsfreiheit darstellt.

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