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Genscher Schmidt

© Darchinger

Genscher über Schmidt: Praeceptor Germaniae

Helmut Schmidt, der am Dienstag 90 wird, hat diesem Land Orientierung gegeben, schreibt sein Weggefährte Hans-Dietrich Genscher.

Am 23. Dezember 2008 vollendet Helmut Schmidt das 90. Lebensjahr. Anlass genug, seine beeindruckende Lebensleistung zu würdigen, die ihm einen Platz in der ersten Reihe der deutschen Nachkriegspolitik sichert. Es gilt, einem Manne gerecht zu werden, der mit Millionen anderen durch die Tiefen der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert gehen musste und der zu den Weggestaltern der neuen Demokratie wurde. Der Sozialdemokrat aus Hamburg, der im Deutschen Bundestag seinen parlamentarischen Weg begann – als „Schmidt- Schnauze“ – und der heute als „Schmidt-Weise“ die Rolle eines Praeceptors Germaniae übernommen hat. Kaum noch übersehbar ist sein schriftstellerisches Werk, seine zahlreichen Aufsätze, seine Reden, aber auch die Literatur über ihn.

Helmut Schmidt war als Hamburger Innensenator der eindrucksvolle Deichgraf, der in der Stunde der Not handelte, der durch persönliche Autorität die Grenzen von Zuständigkeiten übersprang und damit Handlungsfähigkeit ermöglichte. Der Macher eben. Er war der Mann, der in einer anderen Bewährungsprobe diesmal als Bundeskanzler dem Krisenstab, gebildet aus Regierung und Opposition, vorsaß. In jenem Gremium also, das in der Zeit der Entführung von Hanns Martin Schleyer und dem Einsatz der GSG 9 in Mogadischu durch Übernahme gemeinsamer Verantwortung ein Beispiel demokratischer Kultur gab. Auch hier der Macher? Das wäre zu wenig, denn es ging um Grundfragen der persönlichen Verantwortung in der Demokratie. Diese Verantwortung lag in letzter Instanz bei den Mitgliedern der Bundesregierung und dort zuallererst bei dem Bundeskanzler. So hat er es auch verstanden, so hat er sich seiner Verantwortung gestellt. Vor allem damals wurde die Verantwortungsethik deutlich, von der er später so viel gesprochen und geschrieben hat. Seine Ausführungen zur Verantwortung in einem demokratischen Staat sind deshalb nicht theoretische Betrachtungen, sie sind Ausdruck eigener Erfahrungen in Grenzsituationen. Was das bedeutet, kann nur ermessen, wer selbst in solchen Bewährungen stand oder sie mit ihm geteilt hat.

Wenn er also zwar der Macher war, aber gewiss nicht nur der Macher, was dann? Er soll einst den Begriff des Visionärs für sich zurückgewiesen haben. Mag sein, wahrscheinlich war es eine jener Zuspitzungen, die er bevorzugte, wenn er eine Debatte auf den Punkt bringen wollte, dabei konnte er gelegentlich auch in den Bereich der Polemik abgleiten. Natürlich ist Helmut Schmidt ein Mann mit Visionen und Perspektiven. Seine Reden und seine Schriften zur Sicherheitspolitik zum Beispiel sind nicht nur zeitgenössische Betrachtungen, sie haben die sicherheitspolitische Debatte weit über Deutschland hinaus beeinflusst.

Frühzeitig erkannte er, zusammen mit seinem Freund Giscard d’Estaing, die Trends der globalen Entwicklungen in der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Die Anregung zur Einrichtung von Weltwirtschaftsgipfeln, zunächst G 5, dann G 7, sollten noch in der Zeit des Kalten Krieges gemeinsames globales Handeln der wichtigsten marktwirtschaftlichen Länder ermöglichen.

Nach der Überwindung des Kalten Krieges und mit dem Eintritt in das 21. Jahrhundert hätte es in der Logik dieses Denkens gelegen, die G 7/G 8 um die neuen globalen Akteure zu erweitern, also um China, Indien, Brasilien und andere.

Ein ähnlich perspektivisches Denken ließ die gemeinsame Initiative der beiden erkennen, als sie mit dem EWS, dem Europäischen Währungssystem, die Anfangsstufe für eine gemeinsame europäische Währung schufen, die in der Perspektive eines gemeinsamen Binnenmarktes lag.

Schwer verständlich fand ich sein Zögern bei der Schaffung zukunftsorientierter Gesetze für den Umweltschutz. Bei unserer Begegnung im Sommer 1982 wies ich noch einmal darauf hin, dass Bundesinnenminister Gerhart Baum (FDP) sich mit einer Reihe wichtiger Umweltvorhaben blockiert sah – ich teilte dieses Gefühl. In der letzten Kabinettssitzung der SPD/FDP-Regierung konnten dann einige davon verabschiedet werden, aber es war zu spät. Der Nachfolger Gerhart Baums, der Innenminister Fritz Zimmermann (CSU) profitierte davon. Er konnte mit einer Reihe von Umweltinitiativen beeindrucken, die er in den Schubladen vorgefunden hatte. Die Fairness gebietet es, hinzuzufügen, dass sich Helmut Schmidt in seiner Zurückhaltung in Sachen Umweltschutz auch durch Stimmen aus der FDP bestärkt fühlen konnte.

Näher begegnet bin ich Helmut Schmidt in der Zeit der ersten schwarz-roten Koalition von 1966–1969. Er war damals Fraktionsvorsitzender der SPD und überzeugter Verfechter dieser Koalition. Ich war als Parlamentarischer Geschäftsführer der FDP-Fraktion einer der Hauptsprecher der Opposition. Dieses natürliche Spannungsverhältnis wurde verschärft durch das entschiedene Eintreten Helmut Schmidts für das Mehrheitswahlrecht und durch die Auseinandersetzung über die Notstandsgesetzgebung. Verwunderlich fand ich, dass Helmut Schmidt an der Idee des Mehrheitswahlrechts festhielt, obwohl mit diesem Wahlrecht Willy Brandt 1969 nicht Bundeskanzler geworden wäre. Und er selbst wäre es unter dem Mehrheitswahlrecht nie geworden. Als Bundeskanzler musste er die Erfahrung machen, dass er die 1972 von Willy Brandt erreichte Position der SPD als stärkste Partei des Deutschen Bundestages schon bei der Wahl 1976 wieder verlor. Dabei blieb es auch bei der Bundestagswahl 1980. Beide Male wählte ihn die FDP zum Bundeskanzler gegen die stärkere CDU/CSU.

Auch wenn Helmut Schmidt erkennbar für eine Fortsetzung der schwarz-roten Koalition über 1969 hinaus war, so erwies er sich in den Koalitionsverhandlungen über die Bildung der ersten SPD/FDP-Bundesregierung als fairer Partner. Diese Haltung setzte er auch in der Zeit fort, in der er als Verteidigungs- und dann als Finanzminister der Bundesregierung angehörte. Nie vergessen werde ich ihm, dass er in der Kabinettsitzung am Morgen nach dem schrecklichen Olympiaattentat in München als Erster das Wort nahm und mir seinen Respekt zum Ausdruck brachte, weil ich mich in München den Attentätern als Austauschgeisel angeboten hatte. Helmut Schmidt war im Kabinett ein erfahrener Kollege mit großer Urteilskraft. Er wurde zu einem bedeutenden Verteidigungsminister, der mit großem Respekt vor den Leistungen seiner Soldaten dem Primat der Politik uneingeschränkt Geltung verschaffte. Er hat die Entwicklung der Bundeswehr nachhaltig beeinflusst und hier ganz maßgeblich das sicherheitspolitische Denken der deutschen Streitkräfte. Mit der Einrichtung der Bundeswehruniversitäten in Hamburg und in München leistete er einen wesentlichen Beitrag zur Qualifizierung der Offiziere. Die Bundeswehruniversität Hamburg trägt deshalb zu Recht seinen Namen.

In einem völlig neuen Verhältnis begegneten wir uns, als er Bundeskanzler und ich sein Stellvertreter und Außenminister wurde. Es wurde eine gute und faire Zusammenarbeit und es wurde außen- und sicherheitspolitisch auch eine erfolgreiche.

Mit politischer Weitsicht wies er in einer Rede in London auf die Gefahren der sowjetischen Aufrüstung mit den Mittelstreckenraketen SS 20 hin. Die Initiative der damaligen Bundesregierung führte zu dem Nato-Doppelbeschluss, der letztlich einen Durchbruch in der Abrüstungsgeschichte, die Beseitigung der atomaren Mittelstreckenraketen auf beiden Seiten bewirkte. Die Unterstützung seiner Partei für diesen Weg schwand dahin. Dazu kam mit dem Münchner Parteitag von 1982 ein immer stärkeres Abrücken der SPD auch von der finanz- und wirtschaftspolitischen Linie Helmut Schmidts. Wie besorgniserregend er das sah, macht die beschwörende Rede deutlich, die er am 30. Juni 1982 vor der Bundestagsfraktion der SPD hielt.

Das Ende der Koalition 1982 bedeutete für die FDP die Trennung von einem Bundeskanzler, mit dem wir in der Sache weitgehend übereinstimmten, der aber die Unterstützung der eigenen Partei zunehmend verloren hatte. Dass er das wohl genauso empfand, zeigt seine Entscheidung, sich für die Bundestagswahl im März 1983 nicht wieder als Kanzlerkandidat zur Verfügung zu stellen. Die Schärfen der Auseinandersetzung nach dem Ende der Koalition und die dabei empfundenen Verletzungen können aus meiner Sicht an den sachlichen Übereinstimmungen mit Helmut Schmidt als Person und an der fairen und erfolgreichen Zusammenarbeit nichts ändern. Sie sind auch historisch gesehen weniger bedeutend als das gemeinsam Erreichte.

Am 23. Dezember 2008 wird ein Mann 90 Jahre alt, der zu den herausragenden Persönlichkeiten der deutschen Nachkriegsgeschichte gehört. Unter den Bundeskanzlern zählt er zu den bedeutendsten. Bis auf den heutigen Tag wird er zu den Persönlichkeiten unseres Landes gerechnet, die dem eigenen Land Orientierung geben können und die international gehört werden. Respekt und auch Dankbarkeit der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes sind Helmut Schmidt sicher und ein herausgehobener Platz in der Geschichte auch. Ich erinnere mich mit Befriedigung und Dankbarkeit an Jahre erfolgreicher und fairer Zusammenarbeit. Meine guten Wünsche, und die meiner Frau, gelten dem Jubilar und seiner verehrten Frau Loki.

Der Autor war von 1969 bis 1974 Bundesinnen- und danach bis 1992 Bundesaußenminister.

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