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Meinung: Geschickte Entschuldigung

Der türkische Premier setzt seine innen- und außenpolitischen Gegner unter Druck.

Selbst nach fast neun Jahren im Ministerpräsidentenamt kann Recep Tayyip Erdogan die Türken immer noch überraschen. So wie diese Woche, als er völlig unerwartet ein Tabu hinwegfegte: Erdogan entschuldigte sich im Namen des Staates für den Tod von 14 000 Zivilisten bei Massakern türkischer Regierungstruppen in den 30er Jahren. Die Geste wird als historisch gefeiert, doch ganz uneigennützig war sie nicht. In Ankara kann Erdogan damit die Opposition vor sich her treiben, außenpolitisch setzt er sich von seinem früheren Partner Baschar al Assad ab und unterstreicht den regionalen Führungsanspruch der Türkei.

Die Opfer der Massaker im ostanatolischen Dersim, das heute Tunceli heißt, waren vor allem Kurden alewitischen Glaubens, Anhänger einer liberalen Strömung des Islam, die von der sunnitischen Mehrheit mit Misstrauen betrachtet wird. Im Kampf gegen einen angeblichen alewitischen Aufstand in Dersim gingen die Regierungstruppen äußerst brutal vor.

Die Massaker wurden teilweise unter der Präsidentschaft des 1938 gestorbenen Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk verübt, der in der offiziellen Ideologie der Türkei wie ein Halbgott verehrt wird. Kritik am Vorgehen in Dersim ist also auch Kritik an Atatürk, und das ist immer noch unerhört.

Erdogans Entschuldigung erforderte also Mut, doch das war ihm die Sache wert. Zur Zeit der Massaker regierte die damalige Staatspartei CHP, die heute in der Opposition sitzt und sich mit der Aufarbeitung der Geschichte schwertut. Nun wurde die CHP von Erdogan nach allen Regeln der Kunst vorgeführt. Die Regierung steht als aufrichtige Kämpferin für die historische Wahrheit da, die Opposition als Hüterin alter Tabus.

Offenheit in der Dersim-Frage hilft Erdogan auch auf einem wichtigen außenpolitischen Feld: beim Streit mit dem Nachbarn Syrien, wo eine alawitische Elite versucht, ihre Herrschaft über die sunnitische Mehrheit des Volkes mit Gewalt zu verteidigen.

Mit seiner historischen Geste gegenüber den türkischen Alewiten will der fromme Sunnit Erdogan die Türkei als Land präsentieren, in dem religiös-ethnische Gräben durch Versöhnung überbrückt werden können. Angesichts des anhaltenden Kurdenkonflikts stimmt dieses Bild zwar nur bedingt, doch Erdogans Entschuldigung lässt das Gefälle zwischen der politischen Kultur der neuen Nahost-Führungsmacht Türkei und den um sich schlagenden orientalischen Despotien deutlich hervortreten.

Noch besser wäre es, wenn Erdogan nicht nur bei ausgewählten Themen wie den Dersim-Massakern auf demokratische Grundsätze achten würde, sondern auch da, wo es ihm nicht ganz so gut passt. Festnahmen von mehreren Hundert kurdischen Politikern und Anwälten wegen angeblicher Unterstützung der PKK sind rechtsstaatlich zweifelhaft, Untersuchungshaft für Journalisten ebenso. Korrekturen in diesen Bereichen würden nicht nur die türkische Demokratie stärken, sondern auch das Ansehen der Türkei in der Welt.

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