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Der Europaminister der Türkei hat seine Landsleute und alle Deutschen türkischer Herkunft zu einer besseren Integration aufgerufen.

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Gesellschaft: Das Ende der Einigkeit

Alle reden von Integration – aus Sehnsucht nach einem verlorenen Zusammenhalt. Denn das ganze Land fühlt sich fremd im eigenen Land.

Das elfte Gebot lautet: Integriert euch. Es ist ein Ruf, der sich nur vordergründig an die Türken in diesem Land richtet, der ihnen aber jetzt sogar aus der Ankara entgegenschallt. „Lernt Deutsch! Passt euch den Sitten und Gebräuchen an!“, forderte neulich der Europaminister der Türkei.

In Wahrheit drückt sich in dieser Debatte und vor allem in diesem Begriff eine Sehnsucht aus, die offenbar das ganze Land erfasst hat: Um Integration dreht sich plötzlich alles, weil viele spüren, dass die integrierte Gesellschaft nicht mehr existiert. Dass stattdessen Partikularinteressen herrschen, die Banken, die Bahn, die Blogger, hier die eine Minderheit und dort die andere, dass, kurz, die gesellschaftliche Migration wächst. Integration ist dabei die ideologische Gegenkraft, die sich gegen all das stemmen und wieder zusammenführen soll, was auseinanderdriftet. Integration ist die Utopie der Stunde, denn sie unterstellt Zusammenhalt: Den einen bedeutet sie, dass Solidarität und Steuererhöhung, den anderen, dass kulturelle und nationale Identität noch möglich ist.

Sich in das identitätsschwache Deutschland zu integrieren, war schon in den vergangenen Jahrzehnten nicht leicht. Früher galt Integration als geglückt, wenn das Kind anatolischer Eltern mit Aktion Sühnezeichen nach Auschwitz fuhr. Doch die Einigkeit im Lande ist schon lange nicht mehr so groß wie einst, im Gegenteil, sie nimmt rasant weiter ab. Beispielhaft ist an Projekten wie der Nachnutzung von Tempelhof, dem neuen Flughafen in Schönefeld, dem Berliner Schloss, oder auch an Stuttgart 21 abzulesen, dass der politische Gang der Dinge keine gesellschaftliche Geschlossenheit mehr herzustellen vermag. Dass die integrative Kraft der Politik so schwach geworden ist, dass es das große Ganze nicht vermitteln kann. Und dass die Zeiten, in denen man sich selbst in einem solchen Rahmen verstehen konnte, schlicht vorbei sind, und dass bei „Einigkeit und Recht und Freiheit“ das erste Wort zunehmend leiser erklingt.

Offen will Deutschland sein, das fehlt in keiner Rede, und fordert zugleich andere auf, Teil des Ganzen zu werden. An der Unmöglichkeit, zugleich grenzenlos und ganz zu sein, also zum Beispiel vom christlich-jüdischen Erbe geprägt sein zu wollen, obwohl man den Religionsunterricht abgeschafft hat, wird das Utopische des Integrationsbegriffs deutlich: Realistisch ist das alles nicht. Und weil wir selber nicht mehr wissen, wer wir sind und was wir wollen, soll Integration in Wahrheit auch dazu führen, dass die anderen auch nicht mehr wissen, wer sie sind. Kein besonders attraktives Angebot.

In der Debatte um Integration bündelt sich derzeit die Ahnung von der Atomisierung der Gesellschaft, von der Zunahme an Parallelgesellschaften. Er fühle sich „fremd im eigenen Land“, sagt der Kreuzberger Politiker angesichts der derzeitigen Integrationsdebatte und denkt, es gehe nur ihm, dem Muslim so. Dabei fühlt sich das ganze Land fremd im eigenen Land. Und ruft deshalb sehnsuchtsvoll nach mehr Integration.

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