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Meinung: Gleiche Chancen – ist das gerecht? In der Wissensgesellschaft muss der soziale Ausgleich neu definiert werden

Von Jürgen Rüttgers

POSITIONEN

Die Soziale Marktwirtschaft war und ist das erfolgreichste Wirtschafts und Gesellschaftsmodell in der deutschen Geschichte. Im Übergang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft braucht Deutschland keine neue Wirtschaftstheorie, sondern eine Rückbesinnung auf die ordnungspolitischen Grundlagen der Politik von Ludwig Erhard.

Ludwig Erhard war ein liberaler Christdemokrat. Er wäre heute kein Neoliberaler.

Neoliberale wollen alles den Marktgesetzen unterwerfen. Es gibt aber Güter jenseits von Angebot und Nachfrage.

Die Soziale Marktwirtschaft ist heute aus zwei Gründen unter Druck geraten: Zum einen liegen die Zuständigkeiten für das Wirtschaftliche und das Soziale nicht mehr in denselben Händen. Das eine folgt heute den Marktgesetzen, das andere wird national bzw. europäisch geregelt. Zum anderen werden Sozialkosten auf den Märkten für Güter und Dienstleistungen unmittelbar preiswirksam.

Wer jedoch daraus den Schluss zieht, der Sozialstaat müsse aufgelöst und das Soziale müsse den Marktgesetzen unterworfen werden, entzieht der Sozialen Marktwirtschaft ihre Grundlage. In der Sozialen Marktwirtschaft ist das Soziale nicht Beiwerk des Marktkapitalismus, sondern integraler Bestandteil der Marktwirtschaft.

Die Politik muss wieder lernen, zwischen Markt und Wettbewerb zu unterscheiden. Wettbewerb als Organisationsmodell ist in der Regel erfolgreicher als andere Steuerungsmodelle. Aber nicht alles kann dem Wettbewerb unterworfen werden, schon gar nicht den Mechanismen des Marktes. So kann z.B. vieles im Bildungssystem, bei der Kultur, im Sozialen nach Wettbewerbsregeln organisiert werden. Es darf dennoch nicht dem Markt überantwortet, also nur nach Angebot und Nachfrage organisiert und damit ökonomisiert werden. Marktwirtschaftliche Orientierung bedeutet nicht, einer Geldkultur das Wort zu reden.

Der Staat als letzte Entscheidungsinstanz der Wirtschaft hat ausgedient. Das ist wahr. Aber der Staat setzt weiter die Rahmenbedingungen für die Wirtschaft, auch im Zeitalter der Globalisierung.

In der Industriegesellschaft war die Umverteilung von materiellen Ressourcen ein Gradmesser für ökonomische Gerechtigkeit. Je mehr verteilt, also vom Staat dem Einzelnen weggenommen und anderen gegeben wurde, desto ineffizienter wurde aber das System, so dass am Ende weniger statt mehr Gerechtigkeit stand.

Umverteilung schafft in der Wissensgesellschaft keine Gerechtigkeit. Da der Produktionsfaktor Wissen durch Gebrauch nicht weniger, sondern mehr wird und sein Gebrauch vom Einzelnen abhängt, kann der Staat ihn nicht umverteilen.

Wenn aber Umverteilung kein Weg zur Schaffung von mehr Gerechtigkeit ist, fragt sich, was der Gradmesser von mehr Gerechtigkeit in der Wissensgesellschaft ist.

Früher bedeutete Gerechtigkeit mehr Gleichheit, und zwar mehr Verteilungs- und mehr Ergebnisgleichheit. Heute verlangt niemand mehr, dass jeder Mensch das Gleiche besitzt. Wer das will, das haben die todbringenden Ideologen des 20. Jahrhunderts gezeigt, zerstört die Freiheit.

In der SPD wird jetzt darüber diskutiert, jedem Menschen die gleichen Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Was jeder daraus macht, sei seine Sache. Man will Ungleichheit im Ergebnis akzeptieren, weil nicht jeder die ihm zur Verfügung stehenden Chancen nutzt. Es soll nicht mehr um den Ausbau der erworbenen Institutionen und Ansprüche gehen, sondern um die Erhöhung des gesellschaftlichen Wohlstandes, von dem alle einen Vorteil haben.

Interessant ist: Nach 200 Jahren erkennen die Vertreter dieses Weges jetzt an, dass der Staat keine Gleichheit herstellen kann. Aber sie machen schon wieder einen Fehler. Jeder Mensch ist von Gott unterschiedlich geschaffen. Und weil dies so ist, wird es auch keine gleichen Chancen am Anfang geben. Behinderte und Nichtbehinderte werden niemals die gleichen Ausgangspositionen haben. Das Gleiche gilt für theoretisch und praktisch Begabte, für diejenigen, die in Deutschland geboren wurden oder anderswo, diejenigen, die auf dem Land aufwachsen oder in der Großstadt. Christen wissen, dass dies nichts über den Wert des Menschen aussagt und absolut nichts über die Frage, was ein erfülltes Leben ist.

Auch der Versuch, die Gleichheit vom Ende an den Anfang zu verlegen, muss scheitern. Wer den Wert des Menschen ökonomisch definiert, gleich ob am Anfang oder am Ende, gleich ob vom Ergebnis oder von den Chancen her betrachtet, wird ihm nicht gerecht.

Jeder Mensch ist gleich an Würde und Freiheit. Deshalb gilt für jeden das gleiche Recht.

Jeder Mensch hat einen Anspruch darauf, Hilfe zu erhalten, wenn er sich selbst nicht helfen kann. Deshalb darf niemand durch Alter, Krankheit oder Arbeitslosigkeit existenziell gefährdet werden. Wer Kinder groß zieht, darf dadurch nicht in Armut fallen. Jeder muss im Rahmen seiner Leistungsfähigkeit zum Gemeinwohl beitragen. Wer sich selbst helfen kann, muss dies tun. Und er muss dazu beitragen, denen zu helfen, die sich selbst nicht helfen können.

Die Allgemeinheit gibt jedem durch ein differenziertes Bildungs- und Ausbildungssystem die Chance, seine Talente zu entfalten. Sie sorgt für eine subsidiäre Grundversorgung. Sie hilft, dass Arbeit für alle möglich ist. Sie fördert die Institutionen, die Menschen Halt und Sicherheit geben. Sie sorgt dafür, dass im riskanten Übergang von verschiedenen Lebenslagen niemand abstürzt.

Dies ist eine Politik der Chancengerechtigkeit wie der ausgleichenden Gerechtigkeit. Vor allem ist es eine Politik der Leistungsgerechtigkeit. Leistungsgerechtigkeit und nicht Verteilungsgerechtigkeit ist der Gesichtspunkt, unter dem der Gedanke des sozialen Ausgleichs als eines Wesensmerkmals der Sozialen Marktwirtschaft auch in Zukunft mit Leben zu füllen ist. Nur dann gelingt eine Politik, die gesellschaftliche Fairness und individuelle Gerechtigkeit verbindet.

Jürgens Rüttgers ist stellvertretender Bundesvorsitzender der CDU und Landesvorsitzender in Nordrhein-Westfalen

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