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Meinung: „Grass’ Autorität ist jetzt noch größer“

Zu den meinungsfreudigsten Kirchenfürsten zählt der Vorsitzende von Polens katholischer Bischofskonferenz keineswegs. Ob beim Konflikt um die antisemitischen Hetztiraden des rechtsklerikalen Radio Maryja, die Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit von Geistlichen oder die zahlreichen Pädophilieskandale im heimischen Klerus: Auf deutliche Hirtenworte harrten Polens Gläubige meist vergeblich.

Zu den meinungsfreudigsten Kirchenfürsten zählt der Vorsitzende von Polens katholischer Bischofskonferenz keineswegs. Ob beim Konflikt um die antisemitischen Hetztiraden des rechtsklerikalen Radio Maryja, die Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit von Geistlichen oder die zahlreichen Pädophilieskandale im heimischen Klerus: Auf deutliche Hirtenworte harrten Polens Gläubige meist vergeblich. Doch nun hat der sonst so vorsichtig formulierende Jozef Michalik sein übliches Ausschweigen mit einer unerwartet deutlichen Stellungnahme gebrochen. Ausgerechnet der konservative Kirchenmann wirft sich für den linken Nobelpreisträger aus dem Nachbarland in die Bresche.

Ein Mensch, der sich zu seiner eigenen Vergangenheit bekenne und andere um Vergebung bitte, dessen Autorität sei für ihn noch größer als zu dem Zeitpunkt, als ihm der Nobelpreis verliehen wurde, mahnte der 65-Jährige seine Landsleute zur Mäßigung bei der Verurteilung der späten SS-Beichte von Grass. Der vor zwei Jahren zu Polens Oberhirten gekürte Michalik ist damit der erste prominente Geistliche, der in der polnischen Grass-Debatte offen Stellung gegen die Forderung nach einer Aberkennung von dessen Danziger Ehrenbürgerschaft bezieht. In den letzten Tagen hatten sich in der Geburtsstadt von Grass neben Ex-Präsident Lech Walesa vor allem Vertreter der rechtsnationalen Regierungspartei PiS der Kaczynski-Brüder für eine Distanzierung zum berühmtesten Sohn der Ostseemetropole stark gemacht.

Schon 1965 hatte Polens katholische Bischofskonferenz mit ihrer denkwürdigen Erklärung „Wir vergeben – und bitten um Vergebung“ erste unschätzbare Schrittmacherdienste beim mühsamen Prozess der deutsch-polnischen Aussöhnung getan. Michalik, der im Lauf der Jahre vom rechten Flügel in die Mitte von Polens erzkonservativer Kirche gerutscht ist, hatte mit seiner unerwarteten Solidaritätsbekundung aber wohl nicht nur den in Bedrängnis geratenen Nobelpreisträger, sondern vor allem das heimische Publikum im Auge. Während die PiS offen mit Radio Maryja paktiert, rückt die Amtskirche vom polarisierenden Gepolter der Warschauer Machthaber zunehmend ab. Das Bekenntnis zu Grass ist wohl auch ein Wink mit dem Zaunpfahl für einen versöhnlichen Umgang bei der kircheninternen Stasi-Debatte: Beamtensohn Michalik scheint auch gegenüber reuigen Stasi-Sündern eher auf Vergebung als auf Abrechnung zu setzen.

Thomas Roser

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