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Meinung: Groß, größer, Größenwahn

Europa darf gegenüber den USA auch mal „nein“ sagen. Paris kann das besser als Berlin/ Von Alfred Grosser

Frankreich und Deutschland sind nicht in der selben Lage. Zum ersten Mal in ihrer jungen Geschichte probt die Bundesrepublik den Aufstand. Bisher waren es alle gewohnt, besonders die USA, dass amerikanische Initiativen und Entscheidungen von deutscher Seite ohne viel Zögern bejaht werden. Aus Dankbarkeit, aus Abhängigkeit, aus der Überzeugung heraus, dass man eine eigene Rolle in der Weltpolitik weder hatte noch beanspruchte.

Anders Frankreich, vor allem zur Zeit de Gaulles. Der diplomatische Widerstand gegen die USA galt gerne als Beweis der Rolle, der Wichtigkeit, der Unabhängigkeit. Wobei im Rückblick der Kern der Politik des Generals ständig übersehen wird. Auch bei den Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag des ElyséeVertrags. Das Nein zu Großbritanniens Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft war getragen von der Idee, dass London das „trojanische Pferd“ der USA in dieser Gemeinschaft sein würde. Und der Elysée-Vertrag von 1963 enthielt die Hoffnung, dass Adenauer sich bei der Wahl zwischen Washington und Paris für Frankreich entscheiden würde.

Vorher jedoch, im Oktober 1962, hatte sich de Gaulle als treuer Verbündeter Kennedys in der Kubakrise erwiesen. Wenn der Westen bedroht ist, soll Frankreich an der Seite mit Amerika handeln, um die gemeinsame Freiheit zu verteidigen. Sobald jedoch die Drohung abnimmt (wie nach Chruschtschows Rückzug in der Kubakrise), geht Frankreich auf Distanz, um mehr Unabhängigkeit zu gewinnen.

Heute spielt Jacques Chirac ein ähnliches Spiel. Er ist anscheinend überzeugt, dass vom Irak keine so große Bedrohung ausgeht, wie George W. Bush sagt. Die Gründe, die einen Angriff auf den Irak rechtfertigen sollen, sind nicht überzeugend. Die Beweise für den Waffenbesitz, die Colin Powell vorgebracht hat, dürfen angezweifelt werden. Ebenso die von Tony Blair. Die Verbindung des Irak zu den Terroristen vom 11. September ist weniger bewiesen als die Saudi-Arabiens.

Dass Donald Rumsfeld den Irak dafür bestrafen möchte, dass ethnische Gruppen dort unterdrückt werden, klingt merkwürdig, wenn man auf die Türkei blickt und sich erinnert, wie gerade Rumsfeld den irakischen Diktator gegen den Iran unterstützt hat – auch als dieser mit Gas gegen seine Kurden vorging, auch als der erste Irak-Krieg vorbei war und der Westen wiederum Saddam Hussein gegen diese Kurden wüten ließ.

Ist es überhaupt angebracht, über den Terror im Irak zu sprechen, wo doch Washington und Paris um die Gunst Putins buhlen, der jeden Tag in Tschetschenien Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verüben lässt? Der gemeinsame Auftritt von Chirac und Putin in Paris kann nur jeden befremden, der an die Grundwerte glaubt, auf die man sich gegen Hitler und Stalin berufen hat. Das gilt auch, wenn Scharon als Verteidiger dieser Grundwerte hingestellt wird.

Wie geht es nun weiter in der Nato und in den UN? Wie wird sich Paris verhalten und wie Berlin? Volker Rühe und General Klaus Naumann haben das französisch-belgisch- deutsche Veto mit guten Gründen kritisiert. Aber man sollte doch klarstellen, dass es nicht um die Verweigerung des Bündnisschutzes für die Türkei geht, sondern um amerikanische Forderungen, deren Annahme den Kriegszustand rechtfertigen würde, bevor die UN entschieden haben.

Welche Rolle die Nato nach dem Untergang der Sowjetunion spielen soll und kann, welche Bedeutung sie hat, das kann seit einem Jahrzehnt niemand klar sagen. In der Schutzmachtrolle war die Führung Amerikas recht selbstbewusst. Was verständlich ist: Die Nato war auf Bitten der Europäer entstanden, sie wollten von Amerika geschützt werden. Ein Bündnis unter Gleichen ist das nie gewesen. Bereits in den fünfziger Jahren gab es im Innenbetrieb den Stempel AEO – American eyes only. Gewiss will heute Polen vor Russland beschützt werden.

Aber kann es die einzige Existenzberechtigung der Nato sein, einstimmig die Politik der USA in der weiten Welt zu unterstützen und sich einstimmig von Amerika führen zu lassen? Unbestritten ist: Nur die USA besitzen die militärische Macht. Aber hatten sie Grund zu Klagen über die europäische Präsenz im ehemaligen Jugoslawien? Haben sie nicht soeben die französischen Versuche einer militärgestützten Schlichtung in Elfenbeinküste gutgeheißen – durch eine einstimmige Resolution des Sicherheitsrats?

Wie es im Sicherheitsrat in Sachen Irak weitergeht, ist vor Freitag schwer zu sagen. Ein französisches Veto ist unwahrscheinlich, wenn es nicht auch von Moskau mitgetragen wird. Andererseits darf Paris ein Veto nicht von vornherein ausschließen, weil es sonst keine Verhandlungsmasse mehr hätte. Die einzige ausreichende Rechtsgrundlage einer Militärintervention ist eine Entscheidung des Sicherheitsrats.

Gewiss, losschlagen können die USA auch ohne sie. So wie das Großbritannien und Frankreich 1956 gegen Ägypten taten wegen des Suezkanals. Damals hat Washington ihre Offensive nicht nur durch Finanzsanktionen, sondern vor allem durch Intervention des Sicherheitsrats gestoppt. Auch wenn die USA die einzige Großmacht in der heutigen Welt sind, berechtigt sie das weder dazu, allein zu entscheiden, wo angegriffen werden soll, noch dazu, allein über die Risiken zu befinden, die eine Offensive gegen den Irak mit sich bringt – im Nahen Osten und darüber hinaus.

Der Autor stammt aus Frankfurt (Main) und lebt als angesehener Politologe seit Jahrzehnten in Paris. Er ist Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels.

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