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Harald Martenstein.

© dpa

Harald Martenstein: Ein bisschen mehr Normalität

Das Topthema „Sarrazin“ hat, glaube ich, seinen Zenit überschritten. Vielleicht könnte man sogar eine erste Bilanz ziehen.

Sarrazin hat, dies hat er, im Grundsatz, mit mir gemeinsam, vielleicht auch mit Ihnen, verehrte Lesende, richtige Sachen gesagt und falsche Sachen. Richtig eng wurde es für ihn allerdings erst, als er die Sache mit dem „jüdischen Gen“ erzählte. Juden hätten ein Juden-Gen, so, wie Basken ein Basken-Gen hätten.

Anschließend waren zur Judengenfrage etliche Artikel in allen Zeitungen zu lesen. Genforscher wurden interviewt. Um nichts falsch zu machen, nahm man besonders gern jüdische Genforscher, von denen es zum Glück eine ganze Menge zu geben scheint. Wie die Genforscher ausführten, lag Sarrazin nicht ganz falsch. Tatsächlich hätten zum Beispiel die osteuropäischen Juden gewisse genetische Gemeinsamkeiten, deswegen würden bestimmte Krankheiten bei ihnen gehäuft auftreten. Sarrazin liege aber auch nicht ganz richtig, denn es gibt verschiedene Gruppen von Juden, und die Formulierung „ein Gen“ sei sowieso Quatsch.

Sarrazin hat seine halbwahre Judengenthese nicht in einem antisemitischen Zusammenhang geäußert. Eher war das Gegenteil der Fall. Sarrazin ist der Ansicht, dass Juden besonders intelligente Menschen seien, aus biologischen Gründen, während Deutschland leider immer dümmer werde. Sarrazin hätte es gerne, dass die Deutschen – was immer man darunter versteht – den Juden ein bisschen ähnlicher sind. Im Grunde steht er in der Tradition des deutschen Philosemitismus, der Juden zu einer besonders großartigen, nahezu unfehlbaren Menschensorte erklärt und damit den Antisemitismus einfach in sein Gegenteil verkehrt. Philosemitismus ist zwar – diesen Satz kann ich Thilo Sarrazin nicht ersparen – nicht intelligent, aber vergleichsweise harmlos und in Deutschland salonfähig.

Ja, nun, es gibt Gene, es gibt Biologie, jeder Mensch hat ein bisschen was davon in sich, wo ist der Skandal? Dass Sarrazin mit einer zu, wie er sagen würde, 50 Prozent richtigen, harmlosen, etwas dussligen Aussage – alle Juden sind Superhirne! – solchen Ärger bekommt, nur weil in ihr das Wort „Juden“ vorkommt, das ist schade. Über Muslime kann er offenbar sagen, was er will, bei Muslimen wäre er wohl sogar mit zweifelsfreiem Rassismus durchgekommen.

Ein bisschen mehr Normalität im deutsch-jüdischen Verhältnis wäre, nach Jahrzehnten der Sonntagsreden, denn doch zu erwarten gewesen. Nicht jeder deutsche Satz, in dem das Wort „Jude“ vorkommt, muss im Jahre 2010 automatisch skandalös sein, in Zweifelsfällen hilft es, sich den Satz erst mal anzuschauen. Gegen Antisemitismus oder Rassismus muss man etwas tun, über Quatsch darf man auch mal den Mantel des Schweigens breiten.

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