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Hauptstadt und Wowereit: Berlin: Nichts wollen, nichts tun, nur sein

In Berlin paart sich eine Jogginghosen-Mentalität, die schon Thilo Sarrazin diagnostizierte, mit Ehrgeizlosigkeit. An Klaus Wowereit lässt sich die altneue Leidenschaft, möglichst unauffällig den Stillstand zu verwalten, gut ablesen.

Das waren Zeiten, als Thilo Sarrazin die Neigung der Berliner zur Jogginghose kritisierte. Der stets in elegante Anzüge gekleidete Finanzsenator hatte, gerade ein Jahr im Amt, die „Grundmentalität“ der Berliner erkannt und mit dem Satz beschrieben, dass in keiner anderen Stadt so viele Leute in „Trainingsanzügen in der Öffentlichkeit“ herumliefen wie in Berlin. Sarrazin hatte Recht – und er hatte beschrieben, was schon damals einen Teil des Berliner Charmes ausmachte. „West-Berlin hat über die langen Jahrzehnte der Teilung seine Leistungsorientierung etwas aus den Augen verloren“, sagte der Finanzsenator in der taz. Und weiter: „Die Berliner Verwaltung hat dreißig Prozent mehr Personal, produziert aber deutlich längere Wartezeiten auf den Ämtern als andere Verwaltungen. Die Qualitätsmaßstäbe im Westberliner Bauwesen waren niedriger als die in der übrigen Bundesrepublik. Das geht bis zu den Taxifahrern: Allein in Berlin darf man nur das erste Taxi am Taxistand besteigen, weil sich die Fahrer gegenseitig keine Konkurrenz machen.“

Einiges hat sich seitdem verändert, auch an und in der Öffentlichkeit. Die Stadt macht mehr her, man ist gern wieder chic. Doch an Sarrazins These war und ist mehr dran, als er selbst damals meinte. Die Jogginghosenmentalität beherrscht heute die Berliner Politik. Etwas weniger feuilletonistisch gesagt: Die Berliner Politik folgt dem Prinzip der Ehrgeizlosigkeit.

Die vollkommene Unvergleichbarkeit Berlins rechtfertig vieles

Um das zu belegen, muss man nicht mit dem Möchtegern-Flughafen kommen. Auch nicht mit der fünfzehn Monate dauernden Duldung des Flüchtlings-Camps auf dem Kreuzberger Oranienplatz. Da haben einige Berliner Politiker sich redlich und intensiv bemüht, um Kompromisse zu finden und Menschen zu helfen, deren Protestpolitik Hilfe und Kompromisse ablehnt. Die Ehrgeizlosigkeit hat sich vor allem im Roten Rathaus ausgebreitet, weil sie es konnte. Das war ganz anders, als der regierungswillige Bürgermeister Klaus Wowereit 2001 den Amateursoziologen Sarrazin nach Berlin holte, damit der als Finanzsenator die Berliner Politik aufmischte. Damals prägte Wowereit das Wort vom „Mentalitätswandel“, den die Stadt vollziehen müsse.

Werner van Bebber arbeitet als Reporter beim Tagesspiegel.
Werner van Bebber arbeitet als Reporter beim Tagesspiegel.

© Kai-Uwe Heinrich

Im Nachhinein ist es erstaunlich, dass ausgerechnet Wowereit, dem Berlin doch über alles geht, so genau gesehen hat, was der Stadt fehlte: einer, der gleich zwei über Jahrzehnte in der Stadt kollektiv trainierte Denkweisen infrage stellte, nämlich die vollkommene Unvergleichbarkeit Berlins und die dies stützende moralische Berechtigung, diese Unvergleichbarkeit mit äußerer Hilfe zu erhalten. Sarrazin verglich Kosten und Nutzen verschiedener Berliner Behörden mit den Kosten, die in anderen Städten für vergleichbare Leistungen anfielen – und manchem Berliner gingen die Lichter in Serie auf: dass Behörden überbesetzt, aber vergleichsweise uneffektiv waren, dass der Polizeikörper und der Lehrkörper zu beleibt waren und Ähnliches mehr. Sarrazin konnte belegen, was er gesehen und kritikwürdig gefunden hatte – und der Regierende Bürgermeister, der Senat und das Abgeordnetenhaus trugen die entschiedene Sparpolitik mit. Wer Politik als das Zünden von Impulse versteht, so dass Dinge sich ändern, der musste dem Duo Wowereit/Sarrazin Respekt zollen. Der einzige Nachteil dieser Politik: Die gigantischen Schulden der Stadt blieben.

Die Überzeugung, dass Berlin wegen seiner Einzigartigkeit einen Anspruch auf Hilfe habe

Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit.
Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit.

© dpa

Schwer zu sagen, wann Sarrazin und Wowereit ihre Entschlossenheit verloren haben, die Sparpolitik fortzusetzen, gewissermaßen das Prinzip der Askese als sexy zu verkaufen. Irgendwann gegen Ende 2006 wird beiden die Zuversicht und womöglich auch die Entschiedenheit abhanden gekommen sein. Dabei hatten sie schon viel erreicht. 2004 hatten die durchgesetzt, dass Lehrer nicht mehr verbeamtet werden. Die Verwaltung war schlanker geworden und hat seither noch mal deutlich an Personal eingebüßt. Der Solidarpakt mit dem öffentlichen Dienst war geschlossen und wirkte – lauter mutig angepackte politische Projekte im Zeichen des Mentalitätswandel.

Doch dann wies das Bundesverfassungsgericht die Klage des Landes Berlin auf Schuldenhilfe ab, und die Berliner Politik verlor ihren Mut. Wowereit sprach damals vom „Alleingelassensein“ Berlins. In seiner Regierungserklärung zu der Karlsruher Entscheidung sagte er im Abgeordnetenhaus: „Wir hatten erwartet, dass das Gericht die Belastungen, die Berlin wegen seiner Geschichte bis heute zu tragen hat, berücksichtigt. Das ist nicht geschehen.“ Der damalige FDP-Fraktionschef Martin Lindner rief: „Was soll denn das Gejammer?“ Aus Wowereits Worten konnte man sie damals schon wieder heraushören – die Überzeugung, dass Berlin wegen seiner Einzigartigkeit einen Anspruch auf Hilfe von außen habe. Das war es dann mit dem Mentalitätswandel.

Gewiss gibt es gute Gründe für die Berliner Binnensicht auf die Stadt. Der Braindrain durch die Nazis, die Abwanderung der Großunternehmen nach dem Zweiten Weltkrieg, die Deindustrialisierung der westlichen Stadt, die Teilung, der Verschleiß der industriellen Basis in Ost-Berlin zu Teilungszeiten, der Zerfall der Kombinate nach dem Untergang der DDR – das war ganz gewiss kein leichtes Stadtschicksal und macht Berlin durchaus einzigartig. Doch abgesehen davon, dass Hilfe von außen zumindest in Mauerzeiten immer da war (und nicht zu knapp), und abgesehen davon, dass Ost-Berlin vom Rest der DDR gelebt hat: Die Überzeugung von der eigenen Besonderheit, dieses von sich selbst berauschte Du-bist-so-wunderbar-Berlin hindert die Berliner Politik schlicht daran, mal neu nachzudenken. Politisch ist Berlin seit langem eine Stadt ohne Speed.

Woran man das merkt? An der Wiederkehr der alten Denke, derzufolge Berlin den Berlinern bestimmte Leistungen einfach zu bieten hat, ganz gleich, ob das anderswo genauso ist, gebührenfreie Kindertagesstätten zum Beispiel. Überhaupt betonte Wowereit schon unmittelbar nach der Karlsruher Entscheidung, so etwas wie eine neue fundamentale Sparbemühung werde es nicht geben. Seither haben die Berliner ein weiteres Mal gewählt und sich selbst die Fortsetzung der Politik der Bräsigkeit verordnet.

Lösungen werden andere finden müssen, nicht Wowereit

Wie soll man es sonst nennen, wenn der wichtigste Politiker der Stadt den Eindruck macht, als sei Helmut Kohl in der (sehr lange dauernden) Spätphase seiner Regentschaft sein stilles Vorbild? Auch Kohl gehört ja, bei allen deutschlandpolitischen Verdiensten, zu den Augen-zu-Politikern, die nach ein paar Jahren im Amt nur noch das Gelände sehen, auf dem sie ihren Ruhm mehren können. Kohl moderierte die Wiedervereinigung – und übersah, dass Deutschland ein stetig größer werdendes Problem mit der Integration und mit seinen Einwanderern hatte. Wowereit übersieht, jedenfalls wirkt es so, dass Berlin spätestens 2019 mit der Neuregelung des Länderfinanzausgleichs und dem Ende des Solidarpakts ein größeres Finanzproblem bekommen wird. Da wäre es nicht falsch, den Kollegen Ministerpräsidenten vorher schon mal zu bedeuten, dass man in Berlin nicht von allem politischen Ehrgeiz verlassen ist.

Klar: Lösungen werden andere finden müssen, Wowereit wird Berlin dann nicht mehr repräsentieren. Umso wichtiger wäre es jetzt schon, nicht bloß steigende Touristen-Übernachtungszahlen zu feiern und auf deutlich gestiegene Steuereinnahmen zu verweisen. Der Regierende könnte unter den Kollegen Bürgermeistern so einige Beispiele für Impuls-Politik finden, kleine und große. So hat sich Wowereits Parteifreund Heinz Buschkowsky viele Jahre lang an der Integrationspolitik abgearbeitet. Man kann darüber streiten, ob er dabei immer so charmant rüberkam wie der Sonnenkönig vom Roten Rathaus. Aber dass Buschkowsky Diskussionen vorangebracht und Debatten über entstehende Parallelgesellschaften befeuert und ehrlicher gemacht hat, wird man ihm nicht bestreiten können. Ein anderes Beispiel: Michael Bloomberg, Ex-Mayor of New York City: Der Mann fühlte sich zur Umwelt- und Gesundheitspolitik berufen. Er bescherte den New Yorkern etwa ein Verbot von übergroßen Getränkebehältern und den Smoke-free Air Act, um New York rauchfrei zu machen. Man kann solche Politik als übergriffig und illiberal kritisieren – aber der Mann hatte politische Ziele, und er hat sie durchgesetzt.

Die latente Gefahr an der Selbstreferenzialität

Politik sollte streitbar sind, manchmal jedenfalls. Ist an Wowereits Politik noch irgendwas streitbar? Sind die Integrationsprobleme der Stadt gelöst? Hat Berlin eine Verwaltung, auf die ein Regierender nach zwölfeinhalb Jahren im Amt mit Stolz blicken könnte? Jüngst fühlte sich Walter Momper veranlasst, seiner SPD (mitsamt ihrem Mann im Roten Rathaus) Ratschläge zu erteilen: „Weder werden Ziele definiert noch umgesetzt, jeder spielt seine persönlichen Spielchen.“ Und weiter: Die SPD-Führung müsse mit zwei, drei zentralen Themen die öffentliche Diskussion in Berlin bestimmen. „Wenn nötig, auch gegen den Mainstream der veröffentlichten Meinung.“

Es gibt zwei Gründe dafür, dass sich der Regierende seine Ehrgeizlosigkeit leisten kann: seine Kollegen Landespolitiker – und die geduldigen Berliner. Wowereits mögliche, theoretische Nachfolger, Jan Stöß und Raed Saleh, haben bislang nicht zu erkennen gegeben, dass ihre Ambitionen ihre jeweiligen Ämter (Landesvorsitz, Fraktionsvorsitz) sprengen. Wowereits Bürgermeisterkollege Frank Henkel von der CDU hat bislang nicht zu erkennen gegeben, dass er möglicherweise zunehmenden Frust über Wowereits Machtspiele im Senat und gute Umfrageergebnisse als Beschleuniger eines Koalitionskrachs bis hin zu Neuwahlen benutzen würde. Henkels CDU war vom Regieren lange ausgeschlossen, fühlte sich ausgestoßen und verachtet, so dass man nun erst mal ganz brav und korrekt zeigen will, wie verlässliche man die Amtsgeschäfte wahrzunehmen in der Lage ist.

Das Publikum nimmt diese Politik ganz einfach hin. Dass Landespolitik eher ambitionslos ist – geschenkt. Dass Berliner Schulpolitik im Bundesvergleich eher weniger angesehen war und ist – geschenkt. Nur nebenbei: Nach der Niederlage in Karlsruhe 2006 hatte Wowereit noch gesagt, Berlin werde Kitaplätze weiterhin kostenlos anbieten, weil Bildung dem Senat ganz besonders wichtig sei. Der Flughafen – geschenkt. Kommt es daher, dass bürgerliche Leistungsideale allenfalls bezirksweise eine größere Bedeutung haben, das Stadtklima aber insgesamt bestimmt ist von dem Gefühl, in der hipsten und trendigsten Metropole Europas zu leben? Genügt es den Berlinern, Berliner zu sein? Sehen sie deshalb ihrem immer noch charmant lächelnden politischen Frontmann und Image-Chefverkäufer seine seit 2006 sehr abgemagerte Erfolgsbilanz nach? Glauben sie selbst an die Offensive der guten Nachrichten amtlichen Charakters, daran, dass immer mehr Menschen in dieser Stadt immer mehr Steuern zahlen?

Das ist die latente Gefahr an der Selbstreferenzialität: Das ständige Gerede darüber, wie toll der Ruf Berlins in der Welt doch ist, lässt das Berlinersein als etwas Wunderbares erscheinen. Man ist schon da, wo so viele hinwollen. In einer der kreativsten, wandlungsfreudigsten, abwechslungsreichsten Städte der Welt. Wozu braucht es da eine ambitionierte Politik, wenn doch „die Start-Up-Szene“, „die Kultur“ und Tausende gut gebildete junge Leute auch so kommen?

Wirtschaftssenatorin Cornelia Yzer berichtete im vergangenen Jahr von einer „robusten Aufwärtsentwicklung“ der Berliner Wirtschaft: 30 000 Jobs mehr in einem Jahr. Dann bereichsweise: Die Industriekonjunktur indes sei „bislang gedämpft“, die Baukonjunktur „differenziert“, das Gründungsgeschehen hingegen lebhaft, Tourismus und Einzelhandel legten zu. Sind das die Folgen einer ambitionierten Politik? Oder eher die Folgen des Booms der Tourismusbranche, die mit Politik nicht viel zu schaffen hat? Dass die Stadt dort weitermacht, wo sie in sehr frühen Hauptstadtzeiten mal war, dass sie wieder Industrie- und Forschungs- und Bildungsmetropole würde, hat mit dem Boom nicht viel zu tun. Das Amt für Statistik hat vor einer paar Tagen berichtet, Berliner Unternehmen hätten im Jahr 2012 um 4,3 Prozent mehr Umsatz gemacht. Die umsatzstärksten Branchen? Na? Die Start-ups? Die Hightech-Firmen? Die umsatzstärksten Branchen in Berlin sind „Handel, Instandhaltung und Reparatur von Kraftfahrzeugen“. Schraubermetropole Berlin.

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