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Meinung: Heute ist morgen gestern

Prophezeiungen und gute Vorsätze gehören zum Jahreswechsel – was ist wichtiger?

Viel gelesen, noch mehr gedruckt. Die vorgezogene Bundestagswahl? Keiner hatte es geahnt. Das französische Nein zur europäischen Verfassung? Undenkbar. Mal wieder werden zum neuen Jahr die Prophezeiungen für das vergangene Jahr überprüft. Und mal wieder hat kaum ein Wahrsager den richtigen Riecher gehabt. Auch Leitartikler haben geirrt. Sollte nach Jassir Arafats Tod nicht alles besser werden im Nahen Osten? Würden die ersten freien Wahlen im Irak die Dinge dort nicht zum Besseren wenden? Und Joschka Fischer? Lange munkelte man, auf ihn warte etwas ganz Großes bei der EU oder den UN. Es wartet offenbar weiter.

Endlos lange ließe die nachträgliche Besserwisserei sich treiben. Über Angela Merkel hieß es, sie sei schwach, habe keinen Rückhalt in der Partei und werde sicher bald gestürzt. Pustekuchen. Über die Gentechnik wurde orakelt, sie werde radikal die Natur des Menschen verändern und die Religion überflüssig machen. Von wegen! Erstens kommt es anders und zweitens, als man denkt: Zum Glück für das Volk ist es skeptisch gegenüber Weissagern, Zukunftsforschern und Trendbegründern. Oder besser: Es verhält sich zur Zukunft abgeklärt neugierig. Die Auguren werden für ihre Arbeit sowohl geliebt als auch belächelt.

„Denke daran, dass heute morgen gestern ist“, mahnte Peter Weiss. Denn auf der Zeitstrecke sind das Kommende und das Gewesene Geschwister. Sie brauchen einander. „Wer heute bereits von morgen sein will“, schrieb der Philosoph Hermann Lübbe, „ist übermorgen von gestern – das ist das unvermeidliche Schicksal jeder Avantgarde.“ Kalt lässt die Zukunft niemanden. Es ist dem Menschen eigentümlich, dass er planen und vorausschauen kann. Die Lust am Orakeln ist etwas zutiefst Humanes. Ob aus tierischen Eingeweiden, den Sternen oder dem Kaffeesatz: Die Methoden haben sich gewandelt, der Drang ist derselbe geblieben. Das Künftige soll als Möglichkeit ansichtig und dadurch beherrschbar werden.

In nahezu allen Religionen gibt es Propheten, Träumer, Deuter. In Erlösungslehren, wie dem Christentum und dem Marxismus, lebt der Glaube an die sinnvolle Zielgerichtetheit des Handelns fort. Ökologen und Klimaforscher können sich darauf verlassen, dass von apokalyptischen Prophezeiungen seit jeher eine gruselige Faszination ausgeht. Der Mensch kann offenbar nicht anders. Etwas Unwiderstehliches treibt ihn dazu, künftige Ereignisse gedanklich vorwegnehmen zu wollen. Dass er sich regelmäßig dabei irrt, hemmt ihn nicht. Neues Jahr, neues Glück.

Ebenfalls zum Jahreswechsel gehören die guten Vorsätze. Denn der Mensch ist das einzige Lebewesen, das ein Versprechen ablegen kann. Zwar weiß er nicht genau, was wird, aber trotzdem legt er sich auf ein Verhalten fest. Wer das schafft, verdient Respekt. Prophezeiungen sind alles Mögliche – intelligent, originell, verwegen, abstrus. Bei Versprechen indes gibt es nur eine Alternative: gehalten oder gebrochen. Jemand kann weitsichtig sein, aber ein Lump. Klug und gut gehören nicht zusammen. Was daraus folgt? Nichts. Oder nur das: Vorsätze sind ernster zu nehmen als Voraussagen. Leider ist es meist andersherum.

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