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Meinung: Hinrichtung McVeighs: Der Traum von der moralischen Todesstrafe

Im August 1936 fand in Amerika die letzte öffentliche Exekution statt. Mehr als 20 000 Schaulustige strömten in den kleinen Ort Owensboro im Bundesstaat Kentucky.

Im August 1936 fand in Amerika die letzte öffentliche Exekution statt. Mehr als 20 000 Schaulustige strömten in den kleinen Ort Owensboro im Bundesstaat Kentucky. Auf Lastwagen fuhren sie herbei. Es war heiß, die Menschen tranken und feierten bis spät in die Nacht Hinrichtungspartys unter freiem Himmel. Sie alle wollten sehen, wie ein 22-jähriger schwarzer Junge aufgehängt wird. Der war für schuldig befunden worden, eine ältere weiße Frau vergewaltigt und ermordet gehabt zu haben.

Die "Chicago Times" wollte die ersten Bilder drucken. Deshalb rückten die Fotografen mit eigenem Entwicklungslabor an. Am Tag danach tat die Presse dann freilich so, als sei sie über die Volksfeststimmung empört. "Sie aßen Hotdogs, während ein Mann am Galgen baumelte", hieß die Überschrift. Eine andere lautete: "Die Kinder hatten Picknick, der Mörder erhielt seine Strafe."

Was man nicht sehen will

Inzwischen finden Hinrichtungen in den USA im Verborgenen statt. Kameras sind verboten. Nur wenige Augenzeugen waren jeweils bei den etwa 700 Exekutionen zugelassen, die seit der Wiedereinführung der Todesstrafe im Jahre 1976 vollstreckt wurden. Aber auch deren Aussagen klangen oft noch zu barbarisch. Die Zeugen berichteten von Menschen, die minutenlang auf dem elektrischen Stuhl zappelten oder in der Gaskammer elendig verendeten. Das verschreckte die braven Bürger.

Um an der Praxis der Todesstrafe festhalten zu können, wurde das System deshalb zivilisiert. Der Skrupel wurde minimiert. Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet in Texas im Jahre 1982 die Injektionsmethode eingeführt wurde. Denn Texas ist das Land, das im Vergleich mit den anderen Bundesstaaten mit Abstand am meisten Hinrichtungen durchführt. Mit der Injektion soll dem Akt des Tötens die Brutalität genommen werden. Jetzt wird auf medizinisch sterile Weise ein wehrloser Mensch, von dem keine Gefahr ausgeht, von anonymen Kräften per Knopfdruck erst betäubt, dann gelähmt und schließlich umgebracht.

Am Anfang bewegt er sich noch ein bisschen, am Schluss nicht mehr: Das ist alles, was die Zeugen von dem Vorgang sehen. Weder wird gezeigt, wie der Verurteilte in die Todeskammer geführt und auf der Pritsche festgeschnallt, noch wie die Leiche abgeschnallt und wegtransportiert wird. Die Todesstrafe ist denen, die sie praktizieren und befürworten, peinlich. Anders lässt sich die Heimlichtuerei nicht erklären.

Zivilisatorisch fragwürdig

Deshalb sind in Amerika vor allem die Anhänger der Todesstrafe von dem Medien-Interesse entsetzt, das die Hinrichtung von Timothy McVeigh begleitet. Denn der Racheakt wird dadurch wieder in die Sphäre der zivilisatorischen Fragwürdigkeit gezerrt. Justizminister John Ashcroft etwa ruft die Presse regelmäßig zur Zurückhaltung auf. Nur zögerlich musste er erlauben, dass zum ersten Mal eine Exekution per Video live übertragen wird. Ein Bundesgesetz schreibt vor, dass die Überlebenden und Angehörigen der Opfer eines Verbrechens das Recht haben, den Täter sterben zu sehen. Rigoros wies er allerdings jedes Ansinnen zurück, die Hinrichtung im Internet zu übertragen. Sorgfältig wacht er auch darüber, dass die Video-Übertragung nicht mitgeschnitten oder angezapft wird.

Der größte Tross, der jemals über eine Todesstrafe berichtet hat, wird heute alle Details der Exekution beleuchten. Es ist die erste, die von der Bundesbehörde seit 38 Jahren vollstreckt wird. Und Timothy McVeigh hat mit dem Bombenanschlag in Oklahoma City das schlimmste terroristische Verbrechen begangen, das jemals in Amerika verübt wurde.

Das Spekakel jedoch ist weit weniger abschreckend als die Angst vor dem Spektakel. Amerika tötet einen Menschen im Namen seiner Bürger, aber es verweigert seinen Bürgern das Recht, zu sehen, was in ihrem Namen geschieht. Die Argumente dafür klingen halbherzig. Die "Sicherheit des Exekutionsprozesses" würde durch eine Kamera gefährdet, heißt es, und der "Persönlichkeitsschutz des Verurteilten" verletzt. Dabei war es Timothy McVeigh selbst, der Häftling mit der Nummer 12076-064, der eine landesweite Fernsehübertragung befürwortet hatte.

Eine einwandfreie Hinrichtung?

Was eine Gesellschaft nicht aushält, sollte sie sich nicht zumuten. Wer die Bilder von einem Krieg nicht erträgt, sollte ihn nicht führen. Die schlimmsten Begleiterscheinungen der Todesstrafe werden in den Vereinigten Staaten gerade abgeschafft. Moratorien werden verhängt, Rassismus und Willkür werden bekämpft, DNA-Tests als Pflichtbeweismittel eingeführt, geistig Behinderte fast nicht mehr verurteilt. Die Mehrheit der US-Amerikaner will die Todesstrafe, aber sie will sie sauber, moralisch möglichst einwandfrei.

Dass dies ein Widerspruch in sich ist, wird einigen vielleicht erst nach dem heutigen Tag aufgehen. Mit einem Höchstmaß an Aufmerksamkeit wurde ein Terrorist getötet, der sich nichts sehnlicher wünschte als Aufmerksamkeit.

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