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Hitler-Attentat: Ein spät berufener Held der Deutschen

Stauffenbergs Attentat auf Hitler war eine moralische Befreiung. Sein Mitstreiter Moltke ist aber die bessere Identifikationsfigur.

Unter der Rubrik „Stauffenberg“ (oder „Tom Cruise als Stauffenberg“) läuft derzeit ein Erregungsprogramm auf allen Kanälen. Da empfiehlt sich, kurz vor dem 63. Jahrestag des 20. Juli, ein Blick auf das historische Profil des Hitler-Attentäters, der vor 100 Jahren geboren wurde. Aber nicht auf ihn allein, diese Personalisierung wäre einseitig, sondern auch auf seinen Altersgenossen Moltke, der eine ganz andere, nicht minder bedeutsame Seite des deutschen Widerstandes verkörpert.

Claus Schenk Graf von Stauffenberg und Helmuth James Graf von Moltke ragen im deutschen Widerstand hervor wie zwei Dreitausender in einem wolkenverhangenen Gebirge. Der eine durch die viele Menschen mitreißende Kraft seiner Täterschaft, der andere durch seine von braunem Dunst nie getrübte Klarheit der Einsicht und der ethischen Regimegegnerschaft von Anfang an.

Stauffenberg wurde 1943 zum Antreiber des Widerstandes, ohne den die Tat, die äußerlich gescheiterte, aber dennoch moralisch befreiende, nie geschehen wäre. Moltke wurde seit 1940 als Schöpfer des Kreisauer Kreises zum Anführer einer großen Koalition des „Anderen Deutschlands“, zum Anstifter einer ethischen Neubesinnung und zum Visionär eines heute noch unerreichten Europas mit übernationaler Souveränität.

Moltke brachte sie alle zusammen, zu intensiver gemeinsamer Arbeit für ein neues Deutschland: Arbeiterführer und Aristokraten, Wissenschaftler und Diplomaten und nicht zuletzt Geistliche beider Konfessionen, die damals so leicht nicht zusammenfanden.

Er war ein intellektueller und ethischer Führer, der im Dschungel moralischer Verwahrlosung einen Pfad zurück in die Zivilisation, in die Zivilgesellschaft vorzeichnete. Dabei ging es ihm weniger um Organisationsfragen als darum, das geschändete „Menschenbild in den Herzen unserer Mitbürger“ wiederaufzurichten. Immer stärker stützte sich der ursprünglich konventionelle und damit recht weltliche Protestant auf das Christentum als letzte ethische Bastion gegen den wertnihilistischen Nationalsozialismus, der fast alle anderen Bastionen geschleift hatte.

Aber dann kommt die Gretchenfrage: Wie hielten es Moltke und seine Freunde mit der Demokratie? Viele Nachgeborene nehmen hier gern eine freundlich-herablassende Haltung ein: Ja ja, schon ganz gute Ansätze, aber erst wir haben es dann in Herrenchiemsee so herrlich weit gebracht. In Moltkes Plänen fehlen ja völlig die gehätschelten heiligen Kühe unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung, die politischen Parteien.

Keine Widerstandsgruppe konnte sich damals eine Wiederbelebung der nicht nur in Weimar, sondern in fast ganz Europa gescheiterten Parteiendemokratie vorstellen. Das Kreisauer Staatskonzept, so altmodisch es uns heute in Teilen erscheint, ist doch immer noch ein interessantes alternatives Denkmodell, das gegenüber der real existierenden Demokratie Stärken wie Schwächen hat. Es wollte die höheren Staatsebenen, die Landtage und den Reichstag, mithilfe indirekter Wahlen aus den menschennahen Selbstverwaltungskörperschaften, den von Moltke so genannten „kleinen Gemeinschaften“, aufbauen. Nur dort, in Ortschaften und Landkreisen, sollte direkt gewählt werden, die höheren Parlamente dann von den unteren. Auf allen Ebenen sollten bekannte Personen und nicht Parteilisten zur Wahl stehen, um dem Demagogen in der Massengesellschaft keine Chance zu geben.

Aber auch neben diesen politischen Gebietskörperschaften wollte Moltke „kleine Gemeinschaften“ ermächtigen, nämlich ehrenamtliche Gruppen, die Gemeinwohlbelange jenseits eigener Interessen vertraten. Selbst öffentlich-rechtliche Befugnisse sollten sie haben. Ist das nicht ein Vorgriff auf die Rolle der Nichtregierungsorganisationen in der Zivilgesellschaft ?

Und was haben uns die Kreisauer Europa-Vorstellungen heute noch zu sagen? Konservative im Widerstand wie Ulrich von Hassell und Carl Goerdeler wandten sich zwar entschieden gegen die Versklavung anderer Völker, wollten aber für Deutschland eine hegemoniale Einflusssphäre etwa im Sinne der alten Reichsidee erhalten. Radikal anders, nämlich antihegemonial, will der Kreisauer Kreis den Neubau Europas. Er will die fatale Rivalität der Nationalstaaten ein für allemal überwinden, indem er weitgehende Souveränitätsrechte auf Europa überträgt und eine echte Europaregierung vorsieht.

Fremd für uns wirkt, ja altertümlich, dass ein christlicher Universalismus Grundlage des neuen Europas sein soll, ja dass die Kirchen sogar im obersten Europaorgan vertreten sein und ein Vetorecht gegen die Berufung höchster Amtsträger haben sollen. Das wäre mit heutigem deutschen und europäischen Verfassungsverständnis natürlich unvereinbar. Aber vielleicht lässt sich die Fremdheit auf einer höheren Abstraktionsebene verringern; wenn wir nämlich nicht das Christentum, sondern die gemeinsame politisch-moralische Wertetradition Europas als Grundlage nehmen. Das ist ja wiederum ein durchaus heutiger Begriff und eine Messlatte für die Mitgliedschaft in der Union. Dass dieser Begriff nicht bloß appellativ sein, sondern gelegentlich auch einmal operativ werden kann, wurde offenbar, als die Europäische Union vor einigen Jahren zwar keinen christlichen Kreuzzug gegen das Heidentum, wohl aber einen politisch-moralischen gegen das Haidertum ausrief.

Das Übergewicht der großen Nationalstaaten Deutschland und Frankreich will Moltke brechen durch Ermächtigung der überstaatlichen, aber auch der unterstaatlichen Ebenen, der föderalen Gebietskörperschaften. Eine heute sehr aktuelle Polarität im „Europa der Regionen“. Die Kreisauer waren kein reiner Debattierklub und gegen praktische Aktion. Zwar wurden sie hingerichtet, weil sie „gemeinsam gedacht hatten“, wie Moltke schrieb, aber in Wahrheit war er Politiker. Mehr als jeder andere baute er Kontakte zu europäischen Widerstandsbewegungen auf, in Frankreich, Belgien, Dänemark und Norwegen, und betrieb damit gesamteuropäische Freiheitspolitik.

Er war auch nicht immer gegen einen Staatsstreich. Er hat jahrelang auf einen Aufstand der Armeeführer gehofft – und oft mit ihnen gesprochen, bis er merkte, dass mit denen kein Staat und erst recht kein Staatsstreich zu machen war. Als diese Hoffnung gescheitert war, lehnte Moltke freilich ein Attentat in letzter Stunde ab, weil er eine neue Dolchstoßlegende fürchtete und eine Umkehr seines Volkes erst nach dem militärischen Zusammenbruch für möglich hielt.

Helmuth James von Moltke verband in Herkunft und Person dreierlei: das Beste aus der rechtsstaatlichen Tradition Preußens, sodann die weltbürgerlichen und liberalen Werte, die ihm seine britischstämmige Mutter vermittelte, und schließlich die Religiosität, die ihm in seinen letzten Jahren immer stärker den Weg wies. In der politisch-moralischen Finsternis der Gewaltherrschaft mit ihren Menschheitsverbrechen – und im Zwielicht, in dem auch viele Regimegegner zwischen Mitmachen und Widerstand umhertappten – blieb dieser Mann ein Leuchtturm ethischer und politischer Klarheit und Konsequenz.

Sehr viel länger war Claus Stauffenbergs Weg zur Einsicht. Er war ungleich stärker als Moltke Fleisch vom Fleische seines Volkes. Nationalsozialist war er nie, aber wie Millionen von Patrioten geblendet von Hitlers außen- und sozialpolitischen Erfolgen. In seinem Herzen und so vielen anderen war es Balsam auf die schwärende Wunde von Versailles, wie Hitler sich einfach nahm, was die westlichen Demokratien dem demokratischen Deutschland verweigert hatten.

Stauffenberg wählte aus Überzeugung den Soldatenberuf und machte Karriere als hochbegabter Generalstabsoffizier. Für ihn war der Offizier die vornehmste Verkörperung von Staat und Nation. Er war aber viel zu geistig, um kommissig zu sein, vielmehr ein Liebhaber der Poesie und Jünger des Dichter-Propheten Stefan George. Dessen Aura faszinierte ihn, dessen Idee einer geistesaristokratischen Elite, genannt das „Geheime Deutschland“, prägte sein Denken. George ließ sich, anders als andere Geistesaristokraten wie Gottfried Benn, Carl Schmitt und Martin Heidegger, von den Nationalsozialisten nicht vereinnahmen. Vielleicht waren sie ihm zu pöbelhaft, das grölende Deutschland war kein geheimes. War Georges Gedicht „Der Widerchrist“ für Stauffenberg ein Wegweiser zur Tat?

wenn einst dies geschlecht sich gereinigt von schande

vom nacken geschleudert die fessel des fröners

wenn je dieses volk sich aus feigem erschlaffen

sein selber erinnert der kür und der sende:

dann flattert im frühwind mit wahrhaftem zeichen

die königsstandarte und grüsst sich verneigend

die Hehren. die Helden!

Stauffenberg ließ sich gewiss von solchen Versen inspirieren. Zuvor aber hatte ihn die esoterisch-weltabgewandte Atmosphäre des George-Kreises jahrelang eher von den Realitäten in Deutschland abgelenkt, die etwa seinen späteren Freund und Mittäter Henning von Tresckow schon nach kurzer anfänglicher NS-Begeisterung in die Opposition trieben.

Die eigenartige Geisteswelt, in die der junge Stauffenberg als Jünger den Spuren seines Meisters folgte, spiegelt sich in den Versen, die der allerdings erst Sechzehnjährige seinem Bruder – und George-Mitjünger – Berthold widmete:

ich wühle gern in alter helden sagen

und fühle mich verwandt so hehrem tun

und ruhmgekröntem blute.

wo blieb macht dann weisheit herrlichkeit

ruhm und schönheit wenn nicht wir sie hätten

des Staufers und Ottonen blonde erben.

Was immer dies ist, nach einem Gegengift gegen den Nationalsozialismus schmeckt es nicht. Früheinsichtige wie Helmuth von Moltke und Adam von Trott zu Solz mit ihren angelsächsischen Bildungselementen haben es da leichter gehabt. Erst als die Realitäten des Holocaust sich unabweisbar aufdrängen, trägt Stauffenbergs elitäres Selbstbewusstsein ganz sicher zur Unbedingtheit seines Tatentschlusses bei. Zunächst nimmt er den Krieg rein professionell, als „mein Handwerk von Jahrhunderten her“. Aus Polen schreibt er 1939: „Die Bevölkerung ist ein unglaublicher Pöbel, sehr viele Juden und sehr viel Mischvolk. Ein Volk, welches sich sicher nur unter der Knute wohlfühlt.“ Von prinzipieller Regimegegnerschaft kann noch lange kaum die Rede sein. Wie so viele Konservative betrachtet Stauffenberg die braunen Parteibonzen geringschätzig, steht aber noch bis 1942 im Banne des Führermythos.

Stauffenberg ist also im Vergleich zu Tresckow, Oster, Beck, ganz zu schweigen von Moltke und Dohnanyi, ein Spätberufener in der Regimegegnerschaft. Nach seiner schweren Verwundung in Afrika erklärt der kaum Genesene im August 1943: „Die Generale haben versagt, jetzt müssen Obersten handeln.“ Und handelt mit unglaublicher Energie, obwohl er ein Auge, die rechte Hand und zwei Finger der linken verloren hat.

Von nun an arbeitet er unermüdlich auf das Attentat hin. Als er im Juni 1944 Chef des Stabes des Ersatzheeres wird und damit Zugang zu Hitlers Lagebesprechungen erhält, beschließt er, trotz seiner Behinderung die fast unmögliche Doppelaufgabe zu schultern: als Attentäter im fernen Ostpreußen und, Stunden später, als Stabschef des Umsturzes im Berliner Bendlerblock.

Am 20. Juli und im Jahr zuvor ist Stauffenberg Kopf, Herz und Hand des deutschen Befreiungsversuches. Was er geschafft hat, ist trotz des äußeren Misslingens eine übermenschliche Leistung. Als Hitler die Detonation von Stauffenbergs Bombe überlebt, wird der Umsturz unmöglich. Aber Stauffenberg hat seinen Landsleuten und der Welt ein Lebenszeichen des „Anderen Deutschlands“ gegeben, er hat ein Fanal gegen die Gewaltherrschaft gezündet, das bis heute fortwirkt als Datum in der europäischen Freiheitsgeschichte.

Ekkehard Klausa

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