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Meinung: Höfliches Halbinteresse

Nach den Ostermärschen, vor dem 1. Mai – die Politik lässt das relativ kalt

Wo findet Politik statt? Wenn es sein muss, auf der Straße, finden die Unermüdlichen, die in den letzten Tagen zu den traditionellen Ostermärschen aufgebrochen sind. Anfang April war es weit mehr als ein Häuflein Aufrechter, die gegen die vermeintlich ungerechten Sozialreformen demonstriert haben. Und in knapp drei Wochen, am 1. Mai, werden die Gewerkschaften mehr Anhänger zu ihren Kundgebungen locken als vor einem Jahr. Die Reaktion? Wenn ein halbes Tausend oder eine ganze Million Menschen auf die Straße geht, sieht das Fernsehen mit vielen Kameras hin. Die Politik nur mit einem halben Auge.

Warum? Die erste Antwort liegt auf der Hand: Das politische Spitzenpersonal der Gegenwart, zumal in Deutschland, hat selbst soviel demonstriert, dass es gegen „die Straße“ gewissermaßen immunisiert ist. Die Erfahrung der rot-grünen Kanzler, Minister, Parlamentarier lehrt, dass Protestmärsche außerordentlich bewegend für die Teilnehmer sein können. Es war aber der Marsch durch die Institutionen, der die Gesellschaft verändert hat. Und außerdem: Wo sind denn die Demonstrationen, die soviele Menschen, so aufrüttelnde Themen wie „damals“, von den späten 60ern bis zu den frühen 80ern, auf die Straße gebracht haben? Seit Beginn der 90er Jahre gilt: Die ganz großen außerparlamentarischen Aktionen sind immer auch staatstragend; Minister stehen auf der Kundgebungsbühne, wenn Deutschland Gesicht zeigt gegen Fremdenfeindlichkeit oder die Anschläge des 11. September. Allenfalls schafft es Gewalt, die routinierte Haltung der Politik zu durchbrechen. Selbst die regelmäßig wiederkehrende Frage nach einer „neuen“ Jugendbewegung, etwa nach den ersten Globalisierungsdemonstrationen oder beim Irak-Protest vor einem Jahr, spiegeln hauptsächlich ein mediales Interesse.

Die zweite, wichtigere Antwort findet sich jenseits der biographisch bedingten Wahrnehmung. Mit den Mitteln der grundgesetzlich garantierten Versammlungsfreiheit, mit Demonstrationen, Kundgebungen, Aktionen, dürfen und sollen die Bürger Einfluss nehmen auf Politik. Ob und wie die repräsentativ gewählten Politiker darauf reagieren oder nicht, darin drückt sich aus, wie eine liberale Demokratie sich ausbalanciert, die beides braucht: Führung und einen selbstbewussten Bürgerwillen.

Als Zeichen von Stärke erweist sich das höfliche Halbinteresse der Politik bei näherem Hinsehen nicht, nur als eins einer neuen Schwäche. Wenn die diesjährigen Kundgebungen die rot-grüne Bundesregierung relativ kalt lassen, dann nur, weil sie sich bereits empfindlich unter Druck sieht: Mehr als alle Demonstrationen lassen sich Politiker vom Stimmungsbarometer Umfrage bewegen, und zwar in allwöchentlicher Penetranz.

Theoretisch könnte man es für einen demokratischen Zugewinn halten, wenn als wirksamste Drohung des Bürgers beim Politiker ankommt: „Wir wählen euch nicht mehr.“ Praktisch nicht. Starke Demonstrationen verlangen von Politikern Bürgernähe. Mit Umfragen spricht man nicht. Demokratisch führen kann nur, wer überzeugt und sich deshalb durchsetzt. Je ungewohnter politische Prozesse sind, desto weniger leuchten sie sofort ein, desto mehr sind sie angewiesen auf die öffentliche Auseinandersetzung. Die rot-grüne Regierung hat drastisch erlebt, dass mediale Kommunikation die vielen Formen der direkten nicht ersetzen kann. Zeit, dass sie daraus lernt.

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