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Meinung: „Ich sage auch unangenehme Wahrheiten“

Er war der Gegenentwurf. Als 1993 der Nationalliberale Alexander von Stahl als Generalbundesanwalt über die missglückte RAF-Fahndungsaktion von Bad Kleinen gestrauchelt war, hielt Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) Ausschau nach einem liberaleren, zurückhaltenderen und weniger politisch agierenden Amtsnachfolger.

Er war der Gegenentwurf. Als 1993 der Nationalliberale Alexander von Stahl als Generalbundesanwalt über die missglückte RAF-Fahndungsaktion von Bad Kleinen gestrauchelt war, hielt Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) Ausschau nach einem liberaleren, zurückhaltenderen und weniger politisch agierenden Amtsnachfolger. Nach zwölfjähriger Amtszeit von Kay Nehm, dem Chefankläger in Karlsruhe, die an diesem Dienstag endet, kann man der Ex-Ministerin rückblickend eine erfolgreiche Suche attestieren.

Nehm, der Norddeutsche aus Flensburg, war immer spröde, fast medienscheu, parteiungebunden und machte – wenn er sich zum öffentlichen Eingreifen durchrang – mit einer liberalen Haltung von sich reden. Dabei soll man dem Sohn eines Juristen – sein Vater hatte es dem Sohn vorgemacht und war Generalstaatsanwalt in Schleswig – nicht unterstellen, er habe keine Meinung vertreten. Die jedoch brachte er nur zum Ausdruck, wenn er den Rechtsstaat in der Pflicht sah.

Für diese Pflicht hat Nehm so manche Schürfungen in Kauf genommen. Wie jüngst, als er die Ermittlungen wegen des mutmaßlich fremdenfeindlichen Übergriffs in Potsdam an sich zog. Oder als er sich 1995 für die Freilassung lebenslänglich inhaftierter Terroristen der RAF aussprach, wenn sie 15 Jahre ihrer Haft verbüßt haben. Den Unmut des damaligen Kanzlers Helmut Kohl zog Nehm einmal auf sich, als er verkündete, die kurdische Arbeiterpartei PKK sei aus Sicht seiner Behörde keine terroristische Vereinigung, sondern eine kriminelle. Die Äußerung des Generalbundesanwalts passte auch da nicht ins politische Klima.

Als Nehm nach den ausländerfeindlichen Attacken von Eggesin und Dessau und nach dem Anschlag auf die Erfurter Synagoge im Jahr 2000 die Ermittlungen an sich zog – weil er ein Klima der Angst diagnostizierte und die innere Sicherheit Deutschlands gefährdet sah – machte er sich in den betroffenen Bundesländern nicht viele Freunde. Doch Nehm hielt den Anfeindungen stand. Dabei war ihm recht oft das vorzeitige Amtsende prophezeit worden. „Ein Generalbundesanwalt ist nun einmal dem Risiko ausgesetzt, von allen Seiten kritisiert zu werden“, bilanzierte er jüngst. Hat er es anders gewollt? Die Ministerin wisse, dass sie sich keinen Ja-Sager ausgesucht habe, hatte Nehm zu seinem Amtsantritt 1994 angekündigt. Das blieb wahr – bis heute.

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