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Meinung: Im Weg nach innen

Von Christoph Stölzl WO IST GOTT? Es gibt das Wort, dass für Gott tausend Jahre sind wie ein Tag.

Von Christoph Stölzl

WO IST GOTT?

Es gibt das Wort, dass für Gott tausend Jahre sind wie ein Tag. Der Gedanke ist feierlich. Man kann sich Gott vorstellen in der vertrauten Menschengestalt der abendländischen Malerei, wie er jenseits der Wolken und Welten mit gewaltigem Blick alles erfasst, Raum und Zeit, darunter auch unseren Blauen Planeten und unser Menschengewimmel darauf. Feierlich ist die Vorstellung, aber sie macht auch frösteln. Sie erinnert mich an einen Film, den ich vor langer Zeit gesehen habe. In Carol Reeds Nachkriegsstory „Der dritte Mann“ gibt es eine Schlüsselszene, die hoch über Wien in einer Kabine des Riesenrads am Prater spielt. Wie sehen Orson Welles, den geheimnisvollen Zwielichtigen, der mit Penicillinfälschung Millionen verdient und dafür gleichmütig den Tod von Kranken in Kauf nimmt. Er unterhält sich mit seinem Jugendfreund, der von diesem Eingeständnis zutiefst schockiert ist und, wenn ich mich recht erinnere, sein Gegenüber auch der Blasphemie zeiht. Der „dritte Mann“ kontert, indem er auf die Straße dort unten zeigt: Wie winzig und austauschbar sind die Menschen!

Ich kann mit der Vorstellung eines der Menschenzeit entrückten Gottes nichts anfangen. Wir Menschen blicken Tag für Tag in die Kalender, die unsere Tage messen und einteilen. Wir lesen „Tages“-Zeitungen, drücken auf Knöpfe, um „Tages“-Schau und „Tages“-Themen zu sehen. Was wir dort sehen, ist ein einziges religiöses Fragezeichen. Fernsehzappen und „Theodizee“, also die Rechtfertigung Gottes, vertragen sich nicht gut miteinander. Blinde Naturgewalt als Erdbebenkatastrophe, sehende Mordplanung im Terror, tödlich endende Familientragödien: Wer einen Abend in die Welt blickt durch das kleine flimmernde Geviert, hat allen Anlass, ratlos zu sein. Die Frage ist uralt: Wie kann Gott, der „Allmächtige“, so viel Unrecht und Leid zulassen auf seiner Welt?

Kurz vor seinem Tod hat Heinrich Heine ein Gedicht darüber geschrieben, aus dem man manche Stütze getrost auch als Prosa zitieren darf: „Warum schleppt sich blutend, elend unter Kreuzlast der Gerechte, während glücklich als ein Sieger trabt auf hohem Ross der Schlechte? Woran liegt die Schuld? Ist etwa unser Herr nicht ganz allmächtig? Oder treibt er selbst den Unfug? Ach, das wäre niederträchtig. Also fragen wir beständig, bis man uns mit einer Hand voll Erde endlich stopft die Mäuler – aber ist das eine Antwort?“

Statt der Theodizee, der unlösbaren Gerechtigkeitsfrage nachzugehen, haben sich zu allen Zeiten viele Menschen damit beschieden, Gott als einen nahen Vertrauten herbeizudenken. Das Mittel dazu ist das Gebet. Kein größerer Gegensatz zum weltenfernen Gott ist denkbar als dieser Weg nach innen. Je vertrauter die Worte, desto sicherer die Gewissheit, gehört zu werden. Mein Schlüssel stammt aus Kindheitserinnerungen. Es ist ein Vers von Paul Gerhard, geschrieben 1648, nach dem großen Morden: „Breit aus die Flügel beide / O Jesu, meine Freude / Und nimm dein Küklein ein / Will mich der Feind verschlingen / So lass die Engel singen / Dies Kind soll unverletzet sein.“

Der Autor ist Vizepräsident des Berliner Abgeordnetenhauses.

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