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Meinung: In der Republik der Demokraten

Zwei Wochen vor der Wahl ist Amerika hoch politisiert und gespalten

Nie wieder! Zwei Sätze sollten endgültig ins Reich der Dummheiten verbannt werden. Es sind Nörgler-Sätze. Sie zeugen von Ignoranz. Der erste: Es ist egal, wer eine Wahl gewinnt, die Volksparteien unterscheiden sich kaum. Der zweite: Demokratien sind allenfalls zu Reformen fähig, gravierend ändert sich nichts. Amerikaner können über solche Aussagen nur den Kopf schütteln. Sie haben in den vergangenen vier Jahren das Gegenteil erlebt, erfahren, erlitten – je nachdem. George W. Bush mag denkbar knapp Präsident geworden sein. Dass er dem Land seinen Stempel aufgedrückt hat, bezweifelt keiner.

Die Maßnahmen waren radikal, ja revolutionär: zwei Kriege, drei Steuersenkungen, das höchste Defizit der Geschichte, ein riesiges neues Ministerium, die Aufkündigung diverser internationaler Verträge. Mit dem langsamen Bohren dicker Bretter hat dieser Mann sich nie aufgehalten. Dem Publikum stockte der Atem, das Tempo machte schwindelig. Bush hat Amerikas Interessen und Prioritäten neu definiert, im Inneren wie im Äußeren. Er hat die Religion und konservative Werte gestärkt. Sein Elan ist ungebrochen.

In zwei Wochen wird Bilanz gezogen. Soll es so weitergehen oder ein Neuanfang gemacht werden? Die Wahl ist spannend. Zu ihren Begleiterscheinungen gehören abgekaute Fingernägel und nervöse Schlafstörungen. In jüngsten Umfragen liegen Bush und sein Herausforderer gleichauf.

Die drei Fernsehduelle haben John Kerry genützt. Dem Zerrbild, das die Republikaner von ihm gezeichnet hatten, entsprach er nicht. Seriös, kompetent und souverän trat er auf. Er strahlte Ruhe aus. Schon das war ein auffälliger Kontrast zum Aktionismus der regierenden Administration.

Es ist die erste Wahl seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001. „Die Nacht fiel auf eine andere Welt“, hat Bush über diesen Tag gesagt. Es ist die erste Wahl seit der Invasion in den Irak; die erste seit 1972, bei der sich das Land im Krieg befindet; die erste, seitdem die Republikaner in beiden Häusern des Kongresses die Mehrheit haben; die erste seit Inkrafttreten des „Patriot Act“.

Und zugleich ist dies die letzte Wahl, bevor die Generation der Babyboomer in Rente geht, was die Sozial- und Krankenversicherungssysteme sprengen wird; die letzte, bevor Richter am „Supreme Court“ aus Altersgründen ausscheiden und neu ernannt werden müssen.

Schicksalsentscheidungen stehen an. Zwei Ideologien bekämpfen sich. Gebt den Menschen Freiheit, Privatbesitz, lasst sie wenig Steuern zahlen und eine in der Religion fundierte Moral haben, fordern die Konservativen. Reichtum verpflichtet, der Staat hat die Aufgabe, sich um die Schwächsten zu kümmern, gesellschaftliche und internationale Institutionen müssen gestärkt werden, meinen die Liberalen. Die Unterschiede sind real.

Bush hat seine Agenda noch längst nicht abgearbeitet. Insbesondere bei der Sozial- und Krankenversicherung will er die Privatisierung vorantreiben. Wohin Kerry das Land steuert, ist ebenfalls bekannt. Er will die Spitzenverdiener zur Kasse bitten, die Staatengemeinschaft soll wieder ein selbstverständlicher Partner Amerikas sein.

Die Amerikaner spüren die Dramatik. Die Zahl derer, die sich für Politik interessieren, hat sich im Vergleich zu den Neunziger Jahren verdoppelt. Erwartet wird eine außerordentlich hohe Wahlbeteiligung. Das Land sei zur Ernsthaftigkeit zurückgekehrt, heißt es. Schluss mit der Spaßkultur und Sensationshascherei! Politik wird wieder als existenziell empfunden. Die Einschaltquoten zu allen drei Fernsehduellen waren hoch.

Die Bevölkerung ist mobilisiert und polarisiert wie selten zuvor. Überall wird erregt diskutiert – mit den Nachbarn, beim Einkaufen, auf dem Kinderspielplatz. Amerika zeigt sich in diesen Tagen als Demokratie in Hochform.

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