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Meinung: Jäger und Gejagte

Von Gerd Appenzeller

Ob es 15 Jahre nach der Wiedervereinigung nicht genug ist mit der Suche nach IMs und Stasiverstrickungen – ja, diese Frage darf man stellen. Nach 15 Jahren werden Mörder begnadigt. 15 Jahre nach dem Ende des Dritten Reichs nahm sich die Justiz der alten Bundesrepublik der Aufarbeitung der NS-Zeit an. Sieht da die Hatz auf IMs nicht nach Rache aus, die Stasi-Unterlagen-Behörde wie ein „Jagdverein gegen Ostdeutsche“? So nannte Hagen Boßdorf, unter Stasiverdacht geratener früherer ORB-Sportchef und Chefredakteur, das Amt von Marianne Birthler.

Hagen Boßdorf weiß, warum er das sagt, aber nicht, wovon er spricht. Die Sicherung der Stasiunterlagen wurde von der frei gewählten DDR-Volkskammer durchgesetzt, westdeutsche Politiker hatten daran kein Interesse. Wenn die Behörde ein Jagdverein ist, dann jagt sie jene, die früher selbst auf die Jagd gingen. Das Gesetz, nach dem sie arbeitet, ist ein Opfer-, kein Tätergesetz.

ARD-Programmdirektor Günter Struve meint, Boßdorf habe niemandem geschadet. Er irrt. Eigentlich erstaunlich, dass ausgerechnet Journalisten nicht fragen, was jene Göttinger Studentinnen heute bewegt, die damals an Gefühle wie Freundschaft oder mehr glaubten und nun wissen, dass sie nur Objekt der Ausforschung waren. Sie sollten Perspektivagenten werden, so etwas wie Günther Guillaume. Den hat Boßdorf bewundert.

Wenn Diktaturen gestürzt werden, bleiben Teile ihrer Machtapparate erhalten oder organisieren sich neu. Auf diese Funktionseliten ist jeder Staat angewiesen. Ihnen anzugehören, ist reizvoll, aber in unfreien Gesellschaften nicht ohne Zugeständnisse möglich. Deshalb sind Juristen, Mediziner, Beamte, Journalisten und auch Künstler besonderen Versuchungen ausgesetzt – und kaum bereit, ihr Tun später selbst in Frage zu stellen. Das ist besonders gefährlich, weil sie in ihren Berufen Netzwerke des Schweigens bilden können, durch die sich die Täter von einst gegenseitig vor Verfolgung und Entdeckung schützen.

Wie so etwas funktioniert, zeigt ein realitätsnahes Beispiel. Ein DDR-Journalist macht im vereinten Deutschland dort Karriere, wo zur DDR-Zeit das Dopingzentrum war. Obwohl für Sport zuständig, nimmt er, anders als viele Kollegen, das Thema nicht auf. Das kann drei Gründe haben: 1. Er glaubt, sein Publikum will das nicht; 2. Er findet, das schade dem Ansehen der DDR; 3. Er hat Angst, dass Betroffene aus Rache seine Stasiverstrickungen öffentlich machen könnten. Variante eins wäre zulässig, aber feige; Variante zwei ein Indiz, dass der Journalist in der falschen Zeit lebt. Variante drei aber begründete, warum es auch künftig die Öffentlichkeit interessieren sollte, ob Journalisten zu nahe an der Stasi waren. Und wenn sie ein Geheimnis daraus machen, muss man nach der Wahrheit fahnden – zum Beispiel in den Unterlagen bei Hagen Boßdorfs „Jagdverein“.

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