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Im Wortlaut: "Kämpfe tapfer, dort, wo das Blut dich bindet!"

Ein paar Stunden mit Thilo Sarrazin zu verbringen: Daraus entsteht die derzeit beliebteste deutsche Reportage. Ganzseitig ist das Ergebnis sowohl in der "Welt am Sonntag" (WamS) nachzulesen als auch in der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" (FAS).

In der WamS schreibt Benjamin von Stuckrad-Barre:

„Sarrazin ist kein Spielverderber und erklärt sich bereit, noch die letzte halbe Stunde des Länderspiels in einer Kneipe anzuschauen, er schlägt die ,Westend Klause’ vor, da trinke er ganz gern mal ab und zu ein Bier. Rauch und Biergeruch schlagen einem entgegen, das Spiel wird auf einem riesigen Bildschirm übertragen, die Stimmung ist hervorragend, Deutschland führt 1:0, ,Thilo, Thilo!’ rufen ein paar Menschen in Deutschlandtrikots, als sie ihn erblicken, Sarrazin bestellt sich ein Bier. Schwer, jetzt aus dem Stand in Stimmung zu kommen, es geht hin und her, Sarrazin befindet, die Türken seien laufstark und es rieche nach einem türkischen Tor, die türkische Abwehr stehe ja ziemlich gut – was man halt so sagt beim Fußballgucken, er macht da jetzt mit, Spiel ist Spiel.

Gerade wird der sonst für Eintracht Frankfurt, heute für die Türkei spielende Altintop ausgewechselt, und der Kommentator attestiert dem sonst neuerdings für Real Madrid, heute für Deutschland spielenden Özil, dieser spiele ,den Ball wie eine Violine’, sein Großvater sei übrigens ,1970 aus einem kleinen Dorf am Schwarzen Meer nach Deutschland gekommen’, dritte Generation also und gern angeführtes Beispiel mustergültig gelungener, bereichernder Integration – und eben dieser Özil macht dann das 2:0, schöner geht es ja kaum! ,Dem sind die Türken jetzt böse’, sagt Sarrazin, und jubelnde Biertrinker um ihn herum rufen: ,Thilo, das ist Integration, wa?’

Die Kellnerin verteilt eine Lokalrunde Kräuterschnapsfläschchen, alle außer Sarrazin klopfen mit den Fläschchen auf den Tischen herum, stürzen dann den Schnaps runter und setzen sich die Metalldrehverschlusskappe auf die Nase.“

In der FAS schreibt Edo Reents:
„13.25 Uhr, das Blaue Sofa wartet. Der Gang quer über den sonnenbeschienenen Platz hin zur Halle 6 ist durchaus kein Spießrutenlauf. Ungläubig-amüsiert kichern Halbwüchsige, die auf die Frage, was sie von Sarrazin halten, ausweichend antworten: ,Jeder hat halt seine eigene Meinung.’ Der extrem enge Verhau, in dem sich die Maske befindet, zwingt uns, noch enger zusammenzurücken. Vor dem Interview muss Sarrazin noch austreten, ein junger bezopfter Mann klopft ihm auf dem Weg zum WC anerkennend auf die Schulter, vier Schutzmänner warten draußen. Dann geht es raus in den bereits sehr stickigen, mit einem blauen Teppich ausgeschlagenen Interviewraum. Es ist übervoll. (...)

Sarrazin steht in der warmen Abendsonne. Der ICE kriecht heran. Wir geben uns die Hand, Sarrazin sieht einem in die Augen. Ich sage ,alles Gute’ und muss an den ,Zauberberg’ denken, Settembrini mit Hans Castorp am Davoser Bahnhof: ,Wie spielt das Leben ... Kämpfe tapfer, dort, wo das Blut dich bindet! Mehr kann jetzt niemand tun. Mir aber verzeih, wenn ich den Rest meiner Kräfte daransetze, um auch mein Land zum Kampfe hinzureißen, auf jener Seite, wohin der Geist und heiliger Eigennutz es weisen. Addio!’ Sarrazin steigt ein, im Gang kommt er uns aus dem Auge. Kurz sieht man ihn noch durch die dunkle Scheibe, dann setzt sich der Zug um 18.27 Uhr in Bewegung.“

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